Erlesenes Tirol
Wer mit Büchern unterwegs ist, reist nie alleine: Unser Autor hat Tirol auf den Spuren großer Schriftsteller durchwandert. Wie ändert sich dadurch der Blick auf die Berge und ihre Menschen?
Ob es der Heuschober dort drüben gewesen ist? Alt genug sieht er ja aus. Das Blockhaus duckt sich neben einem der riesigen Findlinge, die hier überall auf den Weiden liegen. Seit ich Ginzling im Zillertal hinter mir gelassen hatte, suche ich die Unterkunft, in der die Helden von „Mr. Noon“ untergekrochen sein könnten. Die vier Wanderer in David Herbert Lawrences autobiografischem Roman waren von Eggerhofen zum Gamserjoch unterwegs. Der Autor hatte die Namen so wenig verändert, dass man kein Literaturwissenschaftler sein muss, um Mayrhofen und das Pfitscher Joch als Setting zu identifizieren.
Ich bin auf den Spuren von Mr. Noon unterwegs, den Kopf voll Literatur. Es dämmert, wie es auf Seite 383 meiner Ausgabe des Romanfragments dämmert. Die Luft ist kühl, aber wohl nicht ganz so kalt wie im Buch. Über den Wiesen erheben sich Starkstrommasten, die es zu Lawrence Zeiten noch nicht gegeben hat. Und trotzdem bin ich den Romanfiguren ganz nah. Sie haben sich in meiner Fantasie eingenistet, wie es sich das Liebespaar Johanna und Gilbert und ihre Wegbegleiter Stanley und Terry vor 109 Jahren irgendwo hier im warmen Heu gemütlich gemacht haben.
Gilbert Noon, wie sich Lawrence in seinem unvollendet gebliebenen Roman nennt, war mal begeistert von der Tiroler Bergwelt, mal „kam er sich winzig vor, wie ein Zwerg zwischen den großen Schenkeln und Schluchten der Berge“. Ich kann diese gemischten Gefühle gut nachvollziehen an diesem Abend und freue mich darüber, dass ich nicht in einem Schober sondern in einer Pension samt Leselampe nächtigen werde.
Auf dem Bettkasten liegt ein ganzer Stapel Bücher. Neben „Mr. Noon“ habe ich unter anderem Werke von Albert Camus und Georg Trakl dabei. Sie sollen mich auf meiner Rundwanderung durch verschiedene Regionen Tirols begleiten. Seit meiner Jugend schleppe ich auf Reisen stets jede Menge Bücher mit mir herum. Statt „Lonely Planet“ oder Baedeker habe ich aber meistens Romane oder Gedichtbände dabei, weil sie die Reiseorte mit Stimmen, Erinnerungen und Bildern aufladen und mich die Landschaft intensiver erleben lassen.
Nicht immer ist mein Versuch, auf den Spuren von Lawrences Hauptfiguren zu wandeln, erfolgreich. Die Unterkunft, in die sich Johanna und Gilbert auf dem Weg nach Süden eingemietet hatten, ist unauffindbar. Das alte Berghotel, so erfahre ich vor Ort, fiel dem Stausee zum Opfer und befindet sich heute am Boden des Schlegeisspeichers. Die Beschreibung des Federbetts, das sich „wie ein Ballon über der Nase der Schlafenden zu erheben scheint“, macht mich trotzdem glücklich.
Mit Büchern im Rucksack ist man nie alleine
Touristen gab es schon zu Gilbert Noons Zeiten, aber beim Anblick der großflächigen Parkplätze am Speichersee wäre der passionierte Motorradfahrer sicher äußerst verwundert gewesen. Der Weg, den die vier Roman-Wanderer von hier aus zum Pfitscher Joch nahmen, kann man noch heute gehen. Ich sehe die „wuchtigen Brocken“, „die Flachmoore“, „die nackten Hänge“ und den Felsenkessel unterhalb des Übergangs, den die inzwischen ziemlich erschöpften Romanhelden als „flaches Gefängnis“ und „Felsenfalle“ empfanden. Genauso wie Gilbert aka Lawrence komme ich „zwischen Geröll und Tümpeln“ schließlich auf der Passhöhe an.
„Mr. Noon“ ist ein hitziges Buch, in dem es um die Suche nach Freiheit geht. Lawrence verarbeitete so seine Affäre mit der deutschen Adeligen Frieda von Richthofen, Mutter dreier Kinder, die mit einem seiner Professoren verheiratet war, und die er nach ihrer Scheidung 1914 schließlich heiratete. Vielleicht schwankt die Stimmung im Buch deshalb zwischen Euphorie und Beklemmung. Dank D. H. Lawrence wird mir erst richtig bewusst, wie vielen Kruzifixen man im Zillertal begegnet. In Stuben und Wirtshäusern, an Häusern und Schuppen, an Bäumen und Felsen. „Manche waren uralte Christusfiguren aus grausilbrigem bejahrtem Holz“, schreibt Lawrence und man spürt den Grusel, den er gegenüber dem „seltsamen, mittelalterlichen Katholizismus“ Tirols empfand: „Manche waren neu und schrecklich: lebensgroße, realistisch dargestellte, kräftige junge Männer am Kreuz, in Todesqual: weiß und verzerrt.“ Der „Verehrung von Grausamkeit und Schmerz und Qual und Tod“ setzt er seine eigene Lebensbejahung entgegen. „Mr. Noon“ ist ein sexpositives Buch, in dem alle paar Seiten lustvoll gevögelt wird. Auch im Heu übrigens.
Auf meiner eigentlich einsamen Wanderung genieße ich die Gesellschaft meiner Wegbegleiter Gilbert und Johanna. Obwohl sie der Fantasie eines Schriftstellers entsprungen sind, beflügeln sie meine Bergtour mit ihren Abenteuern, Neurosen, Beobachtungen und Lüsten.
Mit Büchern im Rucksack kommt man ins Gespräch
Auf die Tour durch das Zillertal folgt eine Stippvisite im Reich der Düsternis und Verzweiflung. Ich habe mich im Isserwirt in Lans einquartiert, einem uralten Gasthof mit herrlichen getäfelten Stuben, alten Möbeln und Gemälden, ganz in der Nähe der Tiroler Landeshauptstadt Innsbruck gelegen. In den 1910er Jahren war ein junger Dichter namens Georg Trakl regelmäßiger Gast. Trakl, drogensüchtig und depressiv, spazierte hier regelmäßig durch die Moor-Landschaft, die auch in vielen seiner Werke auftaucht. Zum Beispiel das Gedicht „Abend in Lans“ aus dem Band „Sebastian im Traum“:
Wanderschaft durch dämmernden Sommer
An Bündeln vergilbten Korns vorbei. Unter getünchten Bogen,
Wo die Schwalbe aus und ein flog, tranken wir feurigen Wein.
Schön: o Schwermut und purpurnes Lachen.
Abend und die dunklen Düfte des Grüns
Kühlen mit Schauern die glühende Stirne uns.
Silberne Wasser rinnen über die Stufen des Walds,
Die Nacht und sprachlos ein vergessenes Leben.
Freund; die belaubten Stege ins Dorf.
„Der getünchte Bogen aus dem Gedicht bezieht sich auf unsere Wirtschaft“, sagt Theresia Raitmayr, deren Sohn das Traditionshaus in der xten Generation führt. Zusammen mit seinem Förderer, dem Verleger Ludwig von Ficker, habe der Dichter nächtelang in der gemütlichen Stube gesessen, die heute seinen Namen trägt. Trakl habe sich beim Isserwirt so gut aufgehoben gefühlt, dass er monatelang mit der Wirtin korrespondierte. „Die Briefe liegen heute in einem Museumsarchiv“, erzählt Raitmayr. Ich trinke zwei Bier auf Trakls Wohl und lasse mir die Rinderbäckchen schmecken. Ob sie hier damals auch schon so gut gekocht haben?
Trakls Innsbrucker Tage und Nächte waren von starken Depressionen und Selbstzweifeln begleitet, die er mit Alkohol und Drogen zu betäuben versuchte. Als er im August 1914 eingezogen wurde und gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Schlacht von Grodeck miterlebte, erlitt er einen kompletten Zusammenbruch. Am 3. November starb er nur 27-jährig an einer Überdosis Kokain.
1925 wurden Trakls sterbliche Überreste auf Betreiben Ludwig von Fickers auf den Mühlauer Friedhof bei Innsbruck überführt. Auf dem schlichten Grabstein steht heute ein kitschiger Gipsengel, der völlig deplaziert wirkt. Am Friedhofsausgang komme ich mit einem Herrn mit Hund und Gießkanne ins Gespräch, der sich als Antiquar und großer Trakl-Kenner herausstellt. Im Sommer 2021, erzählt Dieter Tausch, so heißt der Herr, sei eine Erstausgabe Trakls mit Anstreichungen des Dichters in den USA für eine halbe Million Dollars verkauft worden. Tausch erzählt, dass manche seiner Bekannten in lauen Sommernächten gerne mit einer Flasche Rotwein zum Grab des Dichters pilgern, um auf ihn anzustoßen. „Ja, ja, der Trakl und die Drogen“, sagt er, und gibt noch eine wunderbare Anekdote zum Besten, wie der damalige Bürgermeister von Mühlau den Verleger Ludwig von Ficker besucht hat: „Trakl randalierte im Garten, was von Ficker mit dem Satz kommentierte: ‚Hören Sie, der Meister hat seine Visionen.‘ Woraufhin der bodenständige Bürgermeister entgegnete: Bsoffen ist er halt!‘“
Mit Büchern im Rucksack bleibt man nie stehen
Die Drogensucht spielte auch auf der Kajaktour von Albert Camus und seiner Frau Simone Hié eine Rolle. Zusammen mit dem Intellektuellen Yves Bourgeois ließen sie im Sommer 1936 ihre Faltboote ins Wasser des Inns gleiten. Es nieselte. Camus, 22 Jahre alt, gutaussehend, aber kränkelnd, war Fußballer, Schwimmer und Mitglied der Kommunistischen Partei. Hié, ein Jahr jünger als ihr Mann, nahm seit ihrer frühen Jugend Morphium gegen heftige Menstruationsbeschwerden und hatte gerade einen Aufenthalt in einer Entzugsklinik hinter sich, als Camus und sie aus dem heimatlichen Algerien nach Europa aufbrachen. Die junge Frau war eine umschwärmte Schönheit mit dem Ruf einer Femme Fatale. Die geplante Kajakwanderung war ein Versuch, die Ehe der Beiden zu retten.
In Briefen beschrieb Camus Innsbruck als Operettenstadt: „Die Leute laufen in kurzen Hosen und mit Federhüten herum.“ Immerhin gefielen ihm das pastellige Türkis des Innwassers und die Berge: „Das Land ist herrlich – von wilder Sanftheit – mit wunderschönen Abenden.“ Ich stehe am Flussufer, sehe das Wasser durch eine Baumreihe direkt unter mir strömen und stelle mir vor, wie der spätere Autor von „Der Mythos des Sisyphos“ durch die starke Strömung gleitet und sich sein Boot immer wieder querstellt. Seine Frau jauchzte, Yves Bourgeois war begeistert von der Landschaft. Bloß Albert Camus fühlte sich von Anfang an unwohl und litt unter der körperlichen Belastung. Nach nur zwei Nächten im klammen Zelt beschloss er die Kajaktour abzubrechen. „Kufstein – die Kapelle und den Inn entlang die Felder im Regen. Sich verdichtende Einsamkeit“, schrieb er in einem Brief. Hié und Bourgeois paddelten von Kufstein aus alleine weiter, Camus nahm Bus und Bahn. Als nächsten Treffpunkt vereinbarten sie Berchtesgaden, ehe die zwei Faltboote an Camus „vorbeischossen wie ein Blitz“. Nur wenige Wochen später trennte er sich von seiner Frau.
Wer mit Büchern reist, verstrickt sich in ein Netz aus Anekdoten, Assoziationen und Bezügen. Eine Geisterwelt, die sich aus verschiedensten Quellen speist. Oft weiß man gar nicht mehr so genau, welche Geschichte aus welchem Roman stammt. Eine Gedichtzeile poppt auf, eine Stimme aus einem Theaterstück, das man vor Jahren gesehen hat. Ein großes Durcheinander, das die Fantasie auf Trab hält.
Mit Büchern im Rucksack sieht man weiter
Aus dem Inntal fahre ich hinauf nach Mösern, einem Dorf auf dem Seefelder Plateau. Dort mache ich mich auf die Suche nach dem Klotzhof. Er ist nicht schwer zu finden, da sich das ehemalige Domizil des Autoren Hermann Broch praktischerweise im Brochweg befindet. Als ich durch die Einfahrt auf die Talseite hinuntergehe, erblicke ich eine Gedenktafel. Ansonsten Wäscheständer, Autokindersitze und Gartenzwerge. Als Broch 1935 im Klotzhof wohnte, gab es in Mösern noch mehr Land- als Gastwirte. Seinen Roman „Die Verzauberung“ siedelt er in einem fiktiven Dorf an, in dem die Industrialisierung in Form von Radios, Bierlastern und Landmaschinen Einzug gehalten hat und gleichzeitig archaische Bräuche gepflegt werden.
Der Roman, in dem es um aktuelle Themen wie Technikfeindlichkeit, Manipulation, Verführung und Populismus geht, ist aus der Perspektive eines Landarztes geschrieben, der die Welt mit einem scharfen, aber auch zärtlichen Blick erfasst. Da gibt es Figuren wie das schwangere Bauernmädchen Agathe Strüm, den einfältigen Waldemar-Schuster oder die charismatische Mutter Grisson. Fantastisch sind auch die Einblicke in das Hundeleben von Trapp, dem treuen Begleiter des Dorfdoktors. „Die Verzauberung“ ist eines jener Bücher, in das man nur schwer hineinfindet. Nicht jeder kann etwas mit Passagen wie dieser anfangen: „Und ich mußte daran denken, daß das Ungeborene vielleicht jetzt schon das Rauschen der Bäume und das Wehen des Sommerwindes vernehme und daß es sein ganzes einstiges Leben dieses Vor-Lauschen als ewiges Heimweh mit sich tragen werde.“ Und auch die Naturbeschreibungen sind Teil einer literarischen Strategie, die abwechselnd be- und entzaubert: „die ganze Vielstämmigkeit des Waldes, des nächtlichen Regens noch voll, beginnt mit der Sonne zu spielen, ein Sonnenfleckenspiel, ein Knisterspiel …“
Mich hat Hermann Broch trotzdem fest am Wickel, als ich auf seinen Spuren durch Mösern spaziere. Der Ort kommt mir abwechselnd bedrohlich und abweisend und dann wieder heimelig vor. Ein verrosteter Haken, der neben einem Hof an einem Strick hängt, wird zu einem bösen Omen, verwelkte Blumen verheißen nichts Gutes. Immer wieder geht es in der „Verzauberung“ darum, dass man sich einen Ort nicht vollständig einprägen kann, dass die Natur und die Wirklichkeit stets Neues und Überraschendes parat halten.
Ich setze mich auf eine Bank, der Föhnwind blättert in meiner grünen Taschenbuchausgabe und stößt dabei eine Stelle auf, die ich mit Bleistift unterstrichen habe: „… ahne ich die Verwobenheit des Wissens“, steht da: „ahne die Ahnung, selber Berg zu sein, selber der Hügel, ich selber das Licht und selber die Landschaft.“ Broch hat es nicht unbedingt so gemeint, aber ich spüre jetzt sehr deutlich, wie mich die alten Bücher mit dem Hier und Jetzt verbinden, und ich mich gleichzeitig in einem gigantischen Geflecht aus Geschriebenem und Erlebtem, Vergangenem und Gegenwärtigem auflöse. Mystisch? Aber hallo! Ich klappe das Buch für heute zu.
Von Süden her nähert sich eine Wolkenfront so schwarz wie der Kaffee, den ich mir vor der Rückfahrt noch irgendwo besorgen sollte. Ich packe die Bücher zusammen und eile zum Mietwagen. Gleich geht es los.