Es kam etwas anders
Tobias Spechter und Lukas Aichhorn erfüllten sich vorletzten Winter ihren großen Traum. Die beiden Freunde wurden Pächter der Lizumer Hütte in den Tuxer Alpen. Dann kam erst der Winter – und dann alles ganz anders als geplant. Ein Gespräch über neue Pläne, Hüttenromantik und das, was hier oben immer gleichbleiben wird: die Freiheit über der Baumgrenze.
„Wenn du eine Hütte pachtest, brauchst du immer eine ordentliche Portion Idealismus. Das machst du eh nicht, um reich zu werden“, sagt Tobias Spechter. Etwas länger als zwei Jahre ist es her, dass der 30-Jährige gemeinsam mit Lukas Aichhorn die Pacht der Lizumer Hütte am Wattenberg in den Tuxer Alpen übernommen hat. Den Frühling haben Tobias und Lukas genutzt, um neue Pläne zu schmieden. Für die eigene Zukunft, und die der Lizumer Hütte, wenn unten im Tal und in der Welt plötzlich alles anders ist, als man noch vor wenigen Monaten dachte.
Die letzten Spuren des Winters
Wer Tobias und Lukas treffen möchte, muss die Wanderschuhe anziehen. Start: der Wattenberg-Parkplatz „Lager Walchen“ direkt vor den Schranken einer militärischen Einrichtung. Ein Soldat im Wachhäuschen zeigt gen Süden und sagt lächelnd: „Immer in diese Richtung und dann vor der Brücke nach links auf den Zirbenweg“, sagt er. Die Lizumer Hütte kennt er ebenso gut wie die Berggeher, die sich auf den Weg dorthin begeben. Der Zirbenweg ist ein idyllischer Wanderpfad und führt in etwas mehr als zwei Stunden hinauf zur Lizumer Hütte auf 2.019 Metern, entlang am Lizumbach, anfangs noch durch Nadelwälder, später durch Zirben und schlussendlich über die Baumgrenze hinaus. Nach dem Überqueren eines kurzen Schneefeldes, den letzten sichtbaren Überbleibseln des Winters, thront die 1912 erbaute Lizumer Hütte auf einer kleinen Anhöhe unter den Gipfeln der Tuxer Alpen. Direkt neben einem kleinen See, dahinter ein Talkessel.
„Das hier ist ein sehr spannender und interessanter Ort. Die Täler und Berghänge sind schwer zu bewirtschaften. Vieles ist noch sehr viel ursprünglicher als andernorts. Mit hochgezüchteten Rassen kommst du hier beispielsweise nicht weit. Das Ergebnis sind außergewöhnliche Almprodukte in hoher Qualität“, erzählt Lukas. Er ist vor allem für die Küche verantwortlich. Der studierte Ernährungswissenschaftler hat nach der Universität in einem Hotel am Achensee eine Lehre zum Koch gemacht, anschließend zehn Jahre lang im À-la-Carte-Bereich gearbeitet und ein soziales Küchenarbeitsprojekt geleitet. Später arbeitete er in der Küche der Regensburger Hütte im Stubaital – dort lernte er Tobias kennen. Sie freundeten sich an.
Mir war durchaus klar, dass es ein gewisses Risiko gibt, wenn man eine Hütte betreibt. Wir gingen aber von etwas anderen Risiken aus.
Im Frühjahr 2019 dann der Entschluss: Sie werden gemeinsam die Lizumer Hütte betreiben. Wer auf die Idee kam, gemeinsam eine Hütte zu schmeißen? Kein Zweifeln, kein Zögern: Tobias. Vollbart, kariertes Holzfällerhemd, verschmitzter Blick. Der gebürtige Passauer hat schon während seines BWL-Studiums in Kufstein auf einer Hütte gearbeitet. Das Konzept für die Lizumer Hütte haben die beiden gemeinsam erarbeitet. Tobias den betriebswirtschaftlichen Part, Lukas den zu Regionalität und Kulinarik. Ein Konzept, das viele Eventualitäten abgedeckt und Visionen aufgezeigt hat. Doch zwei Begriffe kamen in dem Konzept nicht vor: Pandemie. Und Lockdown. Damit konnte niemand rechnen.
Weit wandern, weiter denken
„Mir war durchaus klar, dass es ein gewisses Risiko gibt, wenn man eine Hütte betreibt“, sagt Lukas. „Wir gingen aber von etwas anderen Risiken aus“. Er lacht. Auf die Frage, was Corona wohl finanziell für sie bedeutet, schaut er kurz in die Ferne, in Richtung Tuxer Gletscher – Luftlinie knappe fünf Kilometer entfernt.
Genau diese Form des nachhaltigen, alpinen Tourismus wird sicherlich auch nach der Krise eine Zukunft haben.
„Vor allem im Sommer haben wir viele Weitwanderer als Gäste, die von München nach Venedig gehen. Das ist ein tolles und enorm spannendes Publikum. Doch davon bleiben jetzt wohl viele aus.“ Auf vielen anderen Hütten fällt das Resümee ähnlich aus – die Gesichter von Tobias und Lukas sind dennoch optimistisch. „Ich mache mir überhaupt keine Sorgen. Wir werden das wirtschaftlich schaffen“, sagt Lukas. Einerseits sieht der Pachtvertrag mit der Sektion Hall des Alpenvereins vor, dass bei geringerem Umsatz auch weniger Fixkosten gezahlt werden müssen. Zum anderen sieht er in der aktuellen Situation auch eine Chance. „Genau diese Form des nachhaltigen, alpinen Tourismus wird sicherlich auch nach der Krise eine Zukunft haben.“
Tobias stimmt zu. „Wir leben hier den sanften Tourismus. Die meisten, die zu uns kommen, beschäftigen sich ohnehin mit Themen wie Entschleunigung, suchen Ruhe und die Natur“, erzählt er. Die 84 Schlafplätze der Lizumer Hütte verteilen sich vor allem auf Doppel- und Vierbettzimmer sowie auf drei großzügig geschnittene Lager. Jedes Zimmer ist mit einem eigenen Waschbecken ausgestattet. Das ist alles andere als gewöhnlich für eine Hütte. Der Grundriss, die Ausstattung mit sanitären Anlagen – all das wird eine wichtige Rolle spielen und darüber entscheiden, wie viele Plätze belegt werden dürfen.
Aufgeräumte Tische statt Salzstreuer
Ein Blick in den Gastraum, in die gute Stube: Die Tische sind leer, manche Bänke umgedreht, um den Mindestabstand zu wahren. „Eigentlich hätten wir hier Blumendekoration, Salzstreuer und Körbe mit dem Besteck stehen. Diese müssten wir allerdings nach jedem Gast reinigen und desinfizieren – das ist zeitlich nicht machbar, deshalb bleiben die Tische vorerst kahl“, sagt Lukas.
Sicher am Berg
Vier Regeln sind in diesem Sommer bei der Übernachtung auf einer Schutzhütte zu beachten:
- Bitte die Hütten nur im gesunden Zustand besuchen.
- Es ist ein eigener Mund-Nasen-Schutz mitzubringen.
- Der Schlafplatz muss unbedingt vorreserviert sein (online oder telefonisch), ohne Reservierung ist in diesem Jahr keine Übernachtung möglich.
- Zur Nächtigung muss ein eigener Schlafsack und Polsterbezug verwendet werden.
„Klar war niemand happy, auch das Personal nicht, als wir beim Lockdown verkünden mussten, dass wir vorläufig schließen und die Gäste nach Hause schicken müssen“, sagt Tobias. Aber das Team, erzählen beide, sei wie eine kleine Familie. Die Wahl des richtigen Personals auf Hütten der Schlüssel zum Erfolg. „Wenn man hier oben arbeitet, treffen Vorstellungen von Hüttenromantik sehr schnell auf die Realität. Damit muss man umgehen können“, sagt Lukas. Zur Hochsaison arbeiten fünf Personen an der Seite von Tobias und Lukas. Im letzten Jahr waren es selbst in den Hochphasen weniger.
Bewährtes Konzept, neue Ziele
Kurz nach Aufhebung des Lockdowns 2020 überwiegte allerdings wieder der Optimismus. Das war den Hüttenpächtern und den anderen Mitarbeitern anzusehen. „Man muss jetzt offen sein für neue Wege“, sagt Tobias. Für ihn, Lukas und die Lizumer Hütte bedeutet das: den Kurs beibehalten und an den richtigen Stellschrauben drehen. Noch stärker auf Qualität setzen, weniger auf Quantität. Authentisch bleiben.
Noch stärker auf Qualität setzen, weniger auf Quantität. Authentisch bleiben.
„Unser Ziel ist es, das Genießer-Publikum anzusprechen“, erklärt Lukas. Das bedeute natürlich einerseits den kulinarischen Genuss – als Küchenchef ist ihm die Arbeit mit der lokalen Käserei-Genossenschaften, Land- und Viehwirten besonders wichtig. Andererseits sei damit auch der bewusste Genuss der Natur, der Ruhe und der alpinen Kulisse gemeint. Nicht aus der Not, sondern aus den ohnehin vorhandenen Stärken eine Tugend machen, so lautet das Motto für Tobias. „Wenn weniger Gäste hier übernachten dürfen, haben wir mehr Zeit für sie. Dementsprechend können wir dem einzelnen Gast mehr Wertschätzung entgegenbringen“, sagt er. Genau das sah damals, vor etwas über zwei Jahren, als die Welt und der Tourismus noch nie etwas von Corona gehört hatten, sein Konzeptpapier vor: eine hohe Qualität anbieten, ohne die angenehme Einfachheit einer Hütte aus den Augen zu verlieren.
Regionales Essen und Lebensmittel servieren und Kooperationen vor Ort eingehen. Dem Gast die Hüttenerfahrung anbieten, die er sich wünscht. „Sicherlich werden wir jetzt stärker als bislang geplant auf Tagesbesucher setzen. Wir haben hier beispielsweise traumhafte Höhenwege auch für Tagestouren. Wir wollen und müssen auch für die Einheimischen attraktiv sein und sie direkt ansprechen“, sagt Tobias. Lukas nickt. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der vieles auf den Prüfstand gestellt wird, hätten die Hüttenwirte auf der lokalen und der Alpenverein auf der gesellschaftlichen Ebene die Chance, sich zu positionieren. Was das konkret bedeuten könnte? „Gemeinsame Kampagnen erarbeiten, eine Hütten-Community aufbauen“, sagt Tobias. Mit den Gästen über ihren Besuch hinaus in Kontakt bleiben.
Hüttenwirte und Handwerker
Und worauf hat sich die Corona-Krise bei den Hüttenwirten noch ausgewirkt? „Das da vorne ist hier eigentlich der sichtbarste Corona-Effekt“, sagt Lukas und deutet auf das Vordach der Hütte. Darunter steht eine ausgebaute Spüle, ein Schneidgerät, Stapel geschnittener Fliesen, die Führungsschiene einer Handkreissäge. „Wir bauen um, schaffen neue Angebote im Freien und machen insgesamt viel mehr selbst“, sagt Lukas. Sie haben Abriss- und Trockenbauarbeiten gemacht, die Spüle getauscht, Fliesen gelegt, im Außenbereich gearbeitet. Frühjahrsputz für Fortgeschrittene. „Wir halten zwar Abstand, aber rücken doch viel näher zusammen. Die Einheimischen, die Mitglieder der Alpenvereins-Sektion – alle haben geholfen“, sagt Lukas. Der Zusammenhalt, das Miteinander – es werde seit Corona noch stärker geschätzt und gelebt als zuvor. Sein Resümee: „Der Anlass ist zwar Corona – aber das gemeinsame Ziel ist positiv: eine langanhaltende, nachhaltige Qualitätssteigerung.“