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Sagenhaftes Tirol: Experte Wolfgang Morscher im Interview
Zackige Berge, tiefe Höhlen oder geheimnisvolle Gewässer: Ungewöhnliche Landschaftsmerkmale gibt es in Tirol zur Genüge. Um deren Entstehung zu erklären, musste einst oft die Sage herhalten. Der Sagenexperte Wolfgang Morscher gibt uns einen Einblick die Tiroler Erzähltradition.
Interview: Simon Leitner
Herr Morscher, was versteht man genau unter einer Sage?
Es handelt sich um Erzählungen über Vergangenes, deren Realitätsanspruch sehr hoch liegt. Der Erzähler ist also von der Wahrheit überzeugt. Die traditionellen Sagen erfüllen das Bedürfnis, die Welt zu erklären und Nicht-Erklärbares zu mythisieren. Sie erfüllen auch bis zu einem gewissen Grad eine soziale Funktion, indem sie Grenzen und Tabus aufzeigen, Warnungen übermitteln, von Strafe, Frevel oder Verhaltensnormen erzählen. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Frau Hitt: die Sage erzählt, dass diese einst eine Riesin war, die einer Bettlerin statt Brot einen Stein hinwarf und zur Strafe für diese Hartherzigkeit versteinert wurde.
Welchen Wahrheitsgehalt kann man einer Sage tatsächlich zuschreiben?
Es gibt ja die Redewendung: „In jeder Sage steckt ein wahrer Kern.“ Es gibt ausreichend Beispiele, etwa in der Archäologie oder in der Bergbaugeschichte, wo man aufgrund von regionalen Erzählungen fündig wurde.
Was fasziniert Sie an dieser Erzählform?
Ich persönlich sehe in der Sage nicht die jeweilige Handlung, sondern das soziale Abbild, das man zwischen den Zeilen lesen kann. Zusätzlich sehe ich in manchen Sagen eine Geschichtsschreibung sozusagen des „kleinen Mannes“, also eine erzählte Geschichte aus völlig anderer Perspektive als jener, die auf Akten beruht.
Zur Person
Der Ethnologe und Kulturwissenschaftler Wolfgang Morscher hat gemeinsam mit seiner Ehefrau Berit Mrugalska zahlreiche Sagen-Sammlungen aus der ganzen Welt veröffentlicht. Zudem betreibt der Wahl-Innsbrucker die Plattform www.sagen.at, auf der tausende Erzähltexte, Dokumentationen und Fotos zu finden sind.
Wie entstehen Sagen?
Sagen entstehen nicht als Sage, das ist nur eine Kategorie. Sagen sind Erzählungen, die über viele Generationen weitergegeben werden. Um es bildlich zu erklären: Wer Kinder erzieht, warnt diese etwa vor der heißen Herdplatte in der Küche oder den Scharnieren vom Wäscheständer. Und natürlich auch vor dem steinernen Schicksal der Frau Hitt, die Lebensmittelfrevel begangen hat.
Sind sie damit vornehmlich an Kinder gerichtet?
Nein! Sagen sind in der authentischen Form meiner Einschätzung nach grundsätzlich für Kinder ungeeignete Erzählformen. Ich würde beispielsweise so manchen Horror frühen Strafrechts oder drastisch geschildertes Leid, das oft in Sagen zu finden ist, meinen Kindern ersparen wollen. Heute gibt es aber natürlich, wie für die meisten Wissensthemen, kindgerecht aufbereitete Editionen.
Gibt es Grenzen, was das Themenspektrum betrifft?
In Sagen werden alle Lebensbereiche angesprochen. Zeitgemäße Fragen beobachten wir in der Gegenwart, denn Sagen entwickeln sich ja nach wie vor. Man denke nur an die so genannten „Urban Legends“. Wenn sich etwa ein neues technisches Gerät verbreitet, dann begegnet man diesem Gerät oft mit Unsicherheit. Als sich in den 1970ern die Mikrowellenherde in den Küchen zu verbreiten begannen, gab es eine Menge Schauererzählungen bis hin zu Horrorgeschichten.
Sie sammeln Sagen aus aller Welt. Welche Rolle spielt die jeweilige Region für die Geschichte?
Die jeweilige Landschaft bildet sich auch in Sagen ab. Daher ist eine Sagensammlung auch ein wunderschöner Reiseführer. Trotz der regionalen Bezüge sind Sagen jedoch ein sehr hohes internationales Kulturgut. Es gibt Orte, an denen solche Erzählungen gehäuft auftreten – sie werden verschiedentlich entrische Orte, manchmal auch Kraftorte oder Kraftplätze genannt. Oft sind dies Stellen, wo man seltsame steinerne Gebilde, Höhlen oder Schalensteine findet und vermutet, dass hier früher rituelle Handlungen stattfanden. Hier muss man jedoch höchst vorsichtig sein, dass man nicht in die Bereiche esoterischer Vermutungen gerät. Man erkennt solche Orte sonst unter anderem in den Flurnamen, in die die langfristigen Erzählungen eingegangen sind. Hier finden wir in fast jedem Ort in Tirol schöne Belege.
Zum Beispiel?
Es gibt etwa die Teufelsbrücke im Zillertal. Der Legende zufolge hat der Teufel dieses Bauwerk errichtet, im Gegenzug aber die erste Seele gefordert, die über die Brücke geht. Also hat ein Bauer in der Früh eine Ziege über die Brücke gejagt. Bei den Mühlauer Bauern hingegen wurde ein Schwein über die noch heute bestehende Schweinsbrücke getrieben.
Auf www.sagen.at sind viele Erzählungen aus Tirol zu finden. Worum handelt es sich bei Ihrer Plattform?
Auf der Website sammeln wir volkskundliche Inhalte. Ich betreibe sie auch mit der Hilfe meiner Frau als Kulturprojekt, wir freuen uns über jeden Beitrag und jede Zusendung. Der Großteil der Texte stammt aus historischen Erzählsammlungen. Seit dem frühen 19. Jahrhundert werden Sagen gesammelt und schriftlich dokumentiert. Bei Wanderungen in Tirol erkundigen wir uns immer nach Sagenerzählungen und ändern dann gegebenenfalls die Route, wenn es spannend wird. Es treffen aber auch interessante Zusendungen ein, sei es von Schulprojekten bis hin zu privaten Aufzeichnungen oder alten Dias, die wir dann einarbeiten und zugänglich machen.
Sie kennen unzählige Sagen aus der ganzen Welt. Haben Sie eine Lieblingssage?
Nein, ich schätze wirklich jeden Text und jede Erzählung.
Vielen Dank für das Gespräch!