Barbara Hundegger: Wort-Landschaften
Als einfacher Bauer in Oberperfuss geboren, wurde Peter Anich zum Pionier der Kartografie. Über sein Leben ist hingegen wenig bekannt. Die Lyrikerin Barbara Hundegger rückt ihn ins Zentrum ihres Buches [anich.atmosphären.atlas]. Was Hundegger an dieser historischen Figur gereizt hat, erzählt sie im Interview.
Was hat Ihr Interesse an Peter Anich geweckt?
Nicht ich bin auf ihn gekommen, sondern er auf mich. Denn als vor etlichen Jahren das Gasthaus Steden in der Innsbrucker Anichstraße renoviert und als „Gasthaus Anich“ wiedereröffnet werden sollte, wurde ich vom Architekten gefragt, ob ich für den Eingang und die Fenster nicht Texte zu Peter Anich machen wollte – und ich wollte. Ich habe mich erstmals nach den tief in der Schulzeit verschütteten Anich-Erinnerungen mit Leben und Werk Peter Anichs beschäftigt – und schon damals das Gefühl gehabt, dass dieser Anich noch ausführlicher in mein Leben zurückkehren würde. Etwas an dieser Geschichte hat mich zutiefst berührt und die Leistungen Anichs hatten ungeheuren Eindruck auf mich gemacht. Anichs „Atlas tyrolensis“ war die erste einheitlich konzipierte Karte eines europäischen Landes und eine der größten kartografischen Pionierleistungen des 18. Jahrhunderts.
Welche Recherchen haben Sie zu dem Buch betrieben?
Ich habe alles Verfügbare gelesen, war mehrmals in Oberperfuss, woher Anich stammt, ich war im Zeughaus, im Landesarchiv und so weiter – aber rasend viel gibt es zu Anich nicht, und es wäre deshalb auch im Hinblick auf Anichs 2023 bevorstehenden 300. Geburtstag vielleicht an der Zeit, dass sich die jüngere Generation neu mit ihm beschäftigt. Ich bin nur Dichterin – und mein Anich-Buch ist ja keine Biografie, sondern eine, wie der Titel es schon sagt, an den historischen Fakten orientierte „atmosphärenforschung“, die mir wahrscheinlich erscheinende innere Konflikte Anichs in den Blick nimmt.
Denn zustande gekommen sind seine Werke unter ruinösem persönlichem Einsatz. Anich wird zeitlebens aufgerieben zwischen Pflichten und Sehnsüchten, Verantwortungen und Träumen. Gefördert von höherer Stelle, ja: aber auch im Dienste des Ruhmes der fördernden Stellen und alleingelassen mit der Überforderung und den Befehlen der Obrigkeiten – sowie den Konflikten, die das Überschreiten der eigenen sozialen Klasse nach sich zieht. Vor allem für diese Bruchstellen im Leben Anichs hab ich mich interessiert: wie diese Zonen aus Unvereinbarkeiten innerhalb eines Menschen beschaffen sein können.
Sie thematisieren im Buch auch, dass Menschen der armen Schichten viele berufliche Wege verschlossen blieben und ihnen gesellschaftlich sehr enge Grenzen gesteckt. Empfinden Sie es als Verpflichtung als Kulturschaffende, Ungleichheit zu bearbeiten?
Sagen wir so: Das Nicht-Berücksichtigen, das Ausblenden der Verhältnisse, die das jeweilige Thema umgeben – also zum Beispiel Armutsfragen, Minderheitenfragen, Mechanismen der Macht, Gerechtigkeitsfragen, besonders auch bezüglich Geschlecht, usw. –, ist für mich ein Herd literarischer Ungenauigkeit, die Einbeziehung der Verhältnisse steigert für mich den Wahrheits- und Relevanzgehalt von Literatur, von Kunst überhaupt.
Aber nicht in Form von oft bloß plumpen Botschaften, sondern intravenös, organisch in den Text eingearbeitet beziehungsweise aus ihm herausgearbeitet – im Sinne von Tiefe und Präzision. Und ja, es gibt vielleicht schon eine Verantwortung des Künstlers und der Künstlerin, sich mit mehr zu befassen als nur mit sich selbst – gerade in der Lyrik mit ihrer exzessiven Selbstbeschau.
Peter Anich (1723–1766)
Peter Anich aus Oberperfuss war Geodät und Kartograf. Schon früh betätigte er sich als Astronom und baute in den 1740er-Jahren präzise Vertikal-Sonnenuhren. Ab 1756 beschäftigte er sich mit Kartografie und erstellte in den folgenden Jahren sein berühmtestes Werk, den Atlas Tirolensis. Die erste flächendeckende Kartierung des historischen Tirol beeindruckt durch ihre Genauigkeit und diente in der Folge als Vorlage für weitere Karten. Sogar das französische Heer bediente sich im Kampf gegen die Tiroler 1809 Karten, die auf Anichs Tirolatlas beruhten. Der Kartograf selbst erlebte die Fertigstellung des Atlas Tirolensis nicht mehr. Er erkrankte bei Vermessungen in Südtirol an Fieber und starb 1766.
Eine Biografie wie die Peter Anichs als lyrisches Werk zu gestalten, ist ungewöhnlich. Warum haben Sie sich für diese Form entschieden?
Die Lyrik ist für mich seit jeher die Literatursorte mit dem größten Potenzial, weil sie wie keine andere Gattung das Ungesagte miteinbezieht – dies aber nicht als Aufforderung zu verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen, sondern in den Zeilen. Weil wenn in den Zeilen eines Gedichtes nichts von Belang steht, steht auch im leeren Raum um es herum nichts von Belang. Alle Bezüglichkeiten eines Wortes müssen in der Lyrik mit den anderen Wörtern und deren Bezügen in eins gesetzt werden, es zählt nicht, was ich meine, sondern was die Sprache meint und in ihr da ist. Und „in der Sprache ist“, wie es die große dänische Schriftstellerin Inger Christensen gesagt hat, „alles schon da“.
Können Sie auch noch etwas zu Wortschatz, Wortwahl und Rhythmus der Sprache in dem Buch sagen?
Dass es ein relativ einfach zu lesendes Buch ist; dass in der Sprache, die ich dabei verwende, auf – oft nur homöopathische Art – Duktus und Tonfall der Zeit anklingen; und dass sich aus dem Punktuellen der Gedichte ein schlüssiges, emotional nachvollziehbares Gesamtbild ergibt. Darüber hinaus hat dieses Buch mir auch die Gelegenheit geboten, mich – über die unzähligen Orts-, See-, Berg-Namen und so weiter – dem Klang Tirols zu widmen, der so lang schon auch italienisch ist!
Vielen Dank für das Gespräch!