Heimatbesuch in Reutte
Vor zwölf Jahren zog Hülya Weller von Tirol nach München. Daheim ist sie an beiden Orten – wobei, so richtig daheim ist Hülya wohl nur in Tirol bei ihrer türkisch-tirolerischen Familie. Wir begleiten Hülya nach Reutte und machen uns auf die Suche nach dem Tirolgefühl ihrer Kindheit.
Im Garten des alten Ziegelgebäudes in Reutte wachsen Zucchini und Petersilie, Tomaten, Gurken und Chilis, an der Hauswand klettert eine grüne Peperoni. Wie es sich in Tirol gehört, steht eine Bank vor dem Haus, und wer sich dort niederlässt blickt auf die Gipfel von Säuling und Thaneller. Daneben steht eine Shisha. Und auch hinter der Haustüre verschmelzen Alpen- und Mittelmeerraum: Da ist der alte hellblaue, mit pastellfarbenen Blumen verschnörkelte Bauernschrank, da sind bunte Kissen im Oriental-Look. Und genau hier ist Hülya Weller zu Hause.
Seit zwölf Jahren wohnt die 32-Jährige in München, aber wie viele Tirolerinnen und Tiroler, die in die Ferne gezogen sind, zieht es sie immer wieder zurück in die Berge. Alle paar Wochen besucht sie ihre Eltern in Reutte, in dem Haus, in dessen Garten mit österreichischer Genauigkeit Samen aus Anatolien sprießen. „Wenn nur das Wetter mitspielen würde“, ärgert sich Hülyas Vater Feti. Mit den Tomaten ist er in diesem Jahr nicht zufrieden. Dabei weiß er gar nicht, wohin mit dem ganzen Gemüse, den Endivien- und Romana-Salaten. Selbst mitten auf dem Rasen tritt man fast auf einen Salatkopf. „Da stand vor kurzem noch ein Baum“, erklärt Feti. „Da wollte ich den leeren Platz nutzen.“
Und plötzlich rollt das „R“
Das Heimatgefühl beginnt schon auf der Reise von München nach Tirol. Da gibt es diese Kurve auf der A95 in Richtung Garmisch-Partenkirchen, nach der sich Hülyas „Heimatpanorama“ in den Blick schiebt. „Da hinten sieht ma schon die Zugspitze!“, ruft sie fast ein bisschen aufgeregt, obwohl sie den Gipfel schon so oft gesehen hat.
Die Berge, die vermisst sie schon in München. Manchmal wundert sie sich immer noch, wenn sie auf den Balkon tritt und weder Thaneller noch Säuling erblickt, die sie aus ihrem Kinderzimmer sehen konnte und später natürlich auch bestiegen hat. An diesem Sommertag will sie einen weiteren Kindheitsort besuchen, die Dürrenberg-Alm auf 1.436 Metern Höhe.
Auf dem Weg nach Reutte kommt sie am Plansee vorbei und muss einen kurzen Zwischenstopp einlegen. Sie steigt aus, klettert ans Ufer hinunter und holt tief Luft. „Es riecht hier so frisch, so gut.“ Frisch ist auch das klare Wasser, in das sie kurz die Fingerspitzen hält. Ob der Urisee später auch so kalt sein wird? Nach der Wanderung will sie auf jeden Fall hineinspringen.
Mit zwanzig Jahren verließ Hülya Tirol, um in München Kulturwissenschaften zu studieren und die Großstadt zu erleben. „Wenn mich jemand fragt, wo ich herkomme, dann sage ich aus Tirol“, sagt Hülya. Allein beim Nachdenken über die Heimat häufen sich die Dialektwörter in ihren Sätzen – und das „R“ rollt plötzlich. Genauer gesagt bezeichnet sich Hülya als türkische Tirolerin. Ihr Opa kam als einer der ersten Gastarbeiter aus dem anatolischen Dorf Sarıyahşi nach Reutte. Als Hülyas Mutter Cangül zwölf Jahre alt war, kam auch sie nach Tirol. Während eines Türkeibesuchs lernte sie später Hülyas Vater Feti Bozkurt kennen. Auf einem Fest bot sie ihm auf der Terrasse eine Zigarette an, so erzählt Hülya die Liebesgeschichte der Eltern lächelnd: „Da fand er sie nicht mehr nur fesch, sondern auch mutig und selbstständig.“ Feti arbeitete in der Türkei als Bänker. Als er nach Reutte kam, begann er nach einigen Hilfsjobs in der hiesigen Fabrik zu arbeiten, so wie viele Männer aus seiner Heimatregion. Heute gibt es in Reutte fast so etwas wie eine türkische Community.
Wanderung in der Zeit zurück
Zehn Minuten entfernt vom Elternhaus beginnt der Wanderweg hoch zur Dürrenberg-Alm. Die Wanderung dauert nur eineinhalb Stunden. „Perfekt, wenn man mit Kindern unterwegs ist“, sagt Hülya, die selbst als Kind mit ihren Eltern fast jedes Wochenende dort hochmarschierte, zum ersten Mal im Alter von drei Jahren. Als Teenager hatte sie eine Weile keine Lust auf Bergtouren, doch vor einigen Jahren hat sie die Alpen wieder für sich entdeckt. Heute erklimmt sie die Berge gemeinsam mit ihrem Mann Raphael, den sie in München geheiratet hat.
Der Weg zur Dürrenberg-Alm führt nicht ganz so hoch hinauf – aber dafür in der Zeit zurück. Der dumpfe Klang der Schritte auf dem Waldboden und der Geruch nach Fichtenholz erinnern Hülya an die Wandertage mit der Volksschulklasse, wenn die Mama es mal wieder besonders gut meinte und den Rucksack mit Wurst- und Käsebroten, Müsliriegel und Obst vollpackte. Oder wenn sie mit den anderen Kindern in der Natur unterwegs war: „Damit wir nicht in den Wald gehen, wurde uns erzählt, dass dort tollwütige Füchse unterwegs sind. Und ich sag’s dir, mindestens einer oder eine von uns hat immer einen gesehen.“
Früher freute sich Hülya auf Kakao mit Schlagrahm auf der Dürrenberg-Alm. Heute ist das Panorama die Belohnung. Der Blick über das Außerfern, wie Berge und Täler des Bezirks Reutte genannt werden, eingebettet von den Gipfel und Flanken fließt der Lech. Hülya wird plötzlich ganz ruhig und schaut mit halb geschlossenen Augen auf Reutte hinunter. „Das Außerfern ist halt besonders schön. Aber so geht’s wahrscheinlich jedem Tiroler und jeder Tirolerin mit dem eigenen Stück Tirol.“ Auf dem Berg empfindet sie ein besonderes Gefühl der Ruhe. Klar ist es ab 21 Uhr auch auf ihrem Münchner Balkon ruhig, aber hier vermische die Ruhe sich mit einem Daheimgefühl. „Kann man das Geborgenheit oder so nennen?“, fragt sie. Den Wirbel um sie herum, die Touristen, das Kindergeschrei, blendet sie offenbar komplett aus. Und das beweist, welche Wirkung der Ort auf sie hat.
Zurück im Tal folgt noch der Sprung in den kleinen, klaren, kalten Urisee. Hülya ist schnell auf dem Steg, im Wasser und lässt sich auf der Oberfläche treiben. Vor allem mit ihrem Vater war sie früher oft hier. Wenn ihre Mutter samstags im Friseurgeschäft arbeitete, gab es im Gasthaus Kaffee für den Papa und Kuchen für Hülya. Und später hat er dann mit seinen Händen ein Becken geformt und kleine Kaulquappen aus dem Wasser geholt, die Hülya betrachten konnte.
Nach dem Abschied ist vor dem Wiedersehen
Wenn Hülya in die Einfahrt des Elternhauses einbiegt, kommen Feti und Cangül schon heraus, bevor der Motor aus ist. Viele Küsse, Umarmungen, übers Haar Streichen – als ob Monate zwischen den Besuchen lägen. Jetzt wo Hülya da ist, kann endlich gekocht werden. In der großen Küche ist für alle Platz. „Fisch machst du besonders gut. Da merkt man, dass du lange am Schwarzen Meer gelebt hast“, sagt Hülya zu ihrem Vater. „Feti macht die besten Schnitzel“, schwärmt hingegen seine Frau Cangül. „Jede zweite Woche ist er mit Kochen dran.“ Feti lacht: „Du darfst nicht alles verraten, mein Schatz. Ich bin doch der Pascha im Haus, was sollen die Leute denken!“
Den Salat hat Feti ganz fein geschnitten. Gurken, Petersilie aus dem Garten, das Olivenöl von einem Bauern aus der Türkei, nur die Tomaten kommen aus dem Supermarkt, wegen des vorhin erwähnten schlechten Wetters. Mercimek çorbası (Linsensuppe), Biber dolması (gefüllte Paprika), Nohut (Kichererbseneintopf),
Pilav (Reis) und ein Fleischgericht – Kavurma. Dazu Fladenbrot und Melone, die sie gerade mit dem Auto aus mitgebracht haben. „Hülya isst die doch so gerne.“
Einmal im Jahr fahren Feti und Cangül mit dem Auto in die Türkei. Längst fühlen sie sich in Tirol mehr zu Hause als in der alten Heimat. Hier haben sie sich ein Leben aufgebaut, ihre Kinder großgezogen und hier arbeiten sie hart. Auch sie sehnen sich nach dem Blick auf den Thaneller, wenn sie lang aus Tirol fort sind. Und sie haben Familie in Reutte. Fetis Bruder betreibt dort eine Bar, auch Cangüls Mutter und Schwestern schauen öfter vorbei.
Nach dem Essen gibt es Çay: Türkischer Schwarztee aus dem Spezialitäten-Laden in der Nähe wird in kleine geschwungene Glastassen gegossen und mit Zuckerwürfeln gesüßt. Dazu wird Kuru Pasta gereicht, süßes und salziges Gebäck aus einer türkischen Biobäckerei.
Als Hülya wieder zurück nach München fährt, kommen wie üblich die Abschiedstränen. „Ich denke mir immer wieder, oh nein, ich will ja eigentlich hierbleiben“, sagt sie. Ob sie eines Tages wieder nach Tirol zieht? Sehr gut möglich. Hülya fährt wieder am Plansee entlang, und der prächtige Anblick erleichtert die Fahrt zurück. „Ich tanke Tirol und hab dann die Möglichkeit, noch ein Stück davon mitzunehmen.“ Außerdem hat ihre Mama wieder eine Jausenbox mit den leckersten Früchten und Keksen gepackt. Ein bisschen Tirol ist immer dabei.