Hoch mit dem gelben Wagen
An einem normalen Arbeitstag legt Harald Gstir mehr Höhenmeter zurück als bei mancher Skitour: Seit sieben Jahren ist er Postler im Kaunertal und bringt Pakete und Briefe auch zu den letzten Höfen im Tal.
Das weißgepunktete rote Pakl ist kaum zu übersehen. Zwischen Briefen, Reklame und vielen braunen Paketen liegt das Päckchen auf einem Stapel in der Post-Verteilerzentrale in Prutz, Tirol. Was da wohl drin ist? Sicher ist, dass sich die Zustelladresse weit oben auf dem Berg befindet. Denn das gepunktete Paket liegt auf dem Stapel von Postbote Harald Gstir.
Um sieben Uhr morgens beginnt die Schicht in der Post-Zustellbasis in Prutz. Hier werden die Sendungen erst vorgeordnet, nach Adresse in graue und orange Boxen sortiert und schließlich in die Zustellautos verladen. „Bei meinem Job brauche ich nach Feierabend kein Fitnessstudio mehr“, sagt Harald lachend, und trägt eineinhalb Stunden graue und orange Boxen in sein Auto. Es wirkt wie ein Wettrennen – alle Postzustellerinnen und Postzusteller sind bemüht, möglichst früh auf die Straße zu kommen.
Die Tour von Harald führt ihn seit sieben Jahren ins Kaunertal und zurück. Vor 27 Jahren hat er bei der Post begonnen. Er hatte eigentlich Koch gelernt, musste dann aber wegen einer Lebensmittelallergie umsatteln. Heute ist er froh drum.
Ein neuer Job
In den vergangenen vierzig Jahren hat sich der Beruf des Postboten stark verändert. Früher wurden die Briefe und Pakete noch mit dem Postauto nach Feichten ins Kaunertal gefahren, von wo sie konditionsstarke Briefträger zu Fuß zustellten. Mit der heutigen Menge an Paketen und Briefen ist diese Methode undenkbar. „Ein einziges Hotel bekommt mittlerweile so viel Post wie vor sechzig Jahren das ganze Tal“, weiß Harald aus den Erzählungen seiner ehemaligen Chefin.
Zu Beginn war auch Harald mit Fahrrad und Anhänger unterwegs – in Ried. „Eine schöne Zeit war das. Da war ich richtig fit. Und mit dem Fahrrad bist du viel wendiger.“ Heute wollte er auf das Auto nicht mehr verzichten. Der Stauraum des grellgelben Kastenwagens ist prall gefüllt. Mit Blick aus dem Fahrerraum nach hinten meint Harald: „Das ist noch wenig. An anderen Tagen habe ich gut das doppelte Volumen an Paketen auszufahren.“
Ein mobiles Alpen-Postamt
Geschickt lenkt er den PKW die sich windende Straße ins Kaunertal hinauf, vorbei an Ställen, Hotels und Wohnhäusern. Die Postbündel bereits vorn am Beifahrersitz vorbereitet springt er nur kurz aus dem Auto, spurtet zur Tür und ist nach einigen Sekunden auch schon wieder zurück. Zeit für Gespräche bleibt kaum. Ein kurzes Hallo, ein Winken, „Vergelt’s Gott, bis bald Harald!“ Schließlich ist die Route lang und der gelbe Wagen auch so etwas wie ein fahrendes Postamt in den Tiroler Bergen. „Wir bringen den Leuten nicht nur die Post, wir holen sie auch wieder ab und bringen sie pünktlich vor Dienstschluss hinaus zur Basis.“
Die modernen Postboten stehen in einer stolzen Tradition: Erst im 16. Jahrhundert hatten die Habsburger Kaiser mit dem Aufbau einer Infrastruktur begonnen, mit dem Nachrichten möglichst schnell über große Distanzen versandt werden konnten. Diese frühe Post war allerdings den Herrschenden und dem Militär vorbehalten. Erst Jahrhunderte später beförderten Briefboten die Sendungen auch an Privatpersonen – und irgendwann bis ins letzte Alpental. Die moderne Gesellschaft, so denken Historiker und Soziologen, sei ohne die Post kaum denkbar. Nur wenn jeder Bürger eine Adresse habe, und Botschaften empfangen und versenden kann, könne eine offene Gesellschaft entstehen. Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden erst durch den Pony-Express und die Eisenbahn zu einem echten Staat. Und in Tirol empfinden die Menschen hier noch heute echte Dankbarkeit für Harald und seine Kolleginnen und Kollegen, die die weite Welt ins Kaunertal bringen – und immer häufiger auch Konsumprodukte und Gebrauchsgegenstände. Von Autoreifen über neues Mobiliar war fast schon alles dabei. Erst letzte Woche hat der Postbote neue Stühle an ein Hotel ausgeliefert.
Das Adresssystem im Kaunertal ist leicht zu durchschauen. Mit den Weilern und Höhenmetern steigen die Nummern auf, von „Kaunertal 1“ bis über zweihundert. Harald ist ein gern gesehener Besucher. Viele der Türen stehen ihm buchstäblich offen. Ist niemand anzutreffen, legt er die Pakete leise ab und ist wieder dahin.
Bei Nummer 49 lässt er sich dann doch noch zum Kaffee überreden. Angelika Gfall, die Inhaberin des Cafés, freut sich über einen Stapel Pakete. „Wie Weihnachten ist das!“, sagt sie und bringt drei dampfenden Tassen. Bald geht es vom kleinen Weiler Vergötschen weiter über Unterhäuser nach Feichten, die Hauptortschaft im Kaunertal. Mit Leichtigkeit nimmt Harald verwinkelte Hauseinfahrten und ist teils über Glatteis flott unterwegs – dank der Spikes an den Reifen.
Lawinengefahr bedeutet Warten
Während er die Landstraße höher hinauf fährt, werden die Lawinenschranken immer zahlreicher. Heute sind sie alle geöffnet. An dem milden Februartag herrscht keine erhöhte Lawinengefahr. Im Kofferraum liegt zwischen den Postboxen eine Lawinenschaufel mit Steckgriff, daneben ein kleines Luftkissen. Dass es manchmal nützlich sein könnte, zeigt ein Video auf Haralds Handy: Darauf donnern die Schneemassen den Berg herab und geradewegs über die Straße hinweg. „Das war vor zwei Wochen, da war die Straße zum letzten Mal zu.“ Passiert sei zum Glück nichts. Wenn die Situation kritisch wird, reagiert die Lawinenkommission rechtzeitig und schließt die Strecke ins enge Kaunertal. Dann kann auch der Postbote nicht zustellen. Es sei denn, er ist schon drinnen im Tal. „Zwei, dreimal pro Winter sitze ich meistens fest. Dann heißt es warten. Bis später der Notweg wieder befahren werden kann.“
Heute lacht freundlich die Sonne. Doch der Postzusteller muss bei jedem Wetter ausrücken. Im Winter trägt er dazu oft Winterstiefel und Gamaschen über die Hose gezogen. Bis zur Hüfte steckte er am Weg zu einem Briefkasten heuer schon fest. Und bei den bis zu 14 Prozent steilen Straßen kann die An- und Abfahrt schon mal abenteuerlich werden – obwohl er Ketten in drei Minuten aufziehen kann. „Ich mag das. Die Abwechslung macht’s. Das ist doch das Abenteuer.“
Bis zum letzten Haus
Hinter dem Ort Feichten fährt man an der Mautstelle vorbei, die den Anfang der Gletscherstraße markiert, und taucht plötzlich ein in die tiefverschneite Bergwelt. Nach ein paar Kurven blitzt ein Bauernhaus auf. Die sogenannte „Wolfskehr“ wird ganzjährig bewohnt, zweimal die Woche bringt Harald die Post. Am Zaun empfängt ihn kein Wolf, sondern ein kläffender Wachhund. „Normalerweise ist der ganz zutraulich“, wundert sich Harald. Er wirft einen Brief ein und wendet das Auto. Am Ende der Route fährt er erst die höchstgelegenen Höfe oberhalb der Wallfahrtskirche Kaltenbrunn an, weil: „Oben bei den Wiesenhöfen bekommt man die letzten Sonnenstrahlen ab.“
Der Postler, das kann man wohl sagen, kennt das Tal wie kaum ein anderer. Im Sommer ist er hier zum Wandern, im Winter mit den Tourenski unterwegs. Und die Menschen, die kennt er auch: „Na geht’s dir wieder besser?“, ruft er dem Inhaber eines Autohauses zu, erklärt dann: „Der hat sich auf einer Skitour vorige Woche das Knie verdreht. Sein Kreuzbandl musste dran glauben.“
Der Postler lässt die Hauptstraße hinter sich und fährt die verstreuten Häuser des Weilers Nufels ab. Die Straße wird immer enger. Schon ein entgegenkommendes Auto könnte zum Problem werden. Doch Harald ist nicht aus der Ruhe zu bringen. Aus dem Autoradio klingt „Lemon Tree“, während er an Heiligenfiguren der nahen Wallfahrtskirche und an Skitourengängern vorbeikurvt. Dann kommt er bei den Wiesenhöfen auf 1.600 Metern Höhe an. Malerisch liegen sie inmitten des Bergpanoramas. Haralds Blick wandert über die umliegenden Gipfel – direkt über ihm das Peischl, weiter drüben der Mooskopf, Madatschkopf und die Verpeilspitze. Ganz hinten im Talschluss sieht man die massive Staumauer des Gepatschstausees, darüber den Gletscher weiß leuchten und die markante Weißseespitze, die wie eine Wächterin über dem Tal thront.
Leider sind die Bewohnerinnen und Bewohner der Höfe nicht daheim. Bevor er abfährt, sieht der Postler noch im Kuhstall nach. Dort blicken ihm nur die neugierigen Kälber entgegen. Der Kofferraum ist nun fast leer, unter den wenigen verbliebenen Sendungen ist auch das auffällig weißgepunktete Paket. Geht’s am Ende doch noch weiter hinauf?
„Mein Gott, das gehört ins Tal. Das hab ich total vergessen“, ruft Harald und springt ins Auto. An diesem Tag macht er eine Extrarunde, damit auch das letzte Paket zu seinem Empfänger findet.