Bergführer im Porträt: Guido Unterwurzacher und der Wilde Kaiser
Ein Zwölfjähriger hangelt sich an der Südostwand der Fleischbank empor, einer der bekanntesten Felsflanken am Wilden Kaiser. Es ist ein Sommerferientag Ende der Neunziger Jahre und die erste richtige Klettertour für den jungen Guido. Sein Onkel, Tom Unterwurzacher, hat ihn mitgenommen. An diesen Tag sollte sich Guido auch Jahre später genau erinnern, denn damit fing für ihn alles an. „Wie ich als kleiner Knirps da hochkam zu den riesigen Wänden, das war sehr imposant. Am Nachmittag kam sogar noch eine Gewitterzelle auf uns zu und hat uns ordentlich eingeregnet. Das sind solche Erlebnisse, die sich einfach ins Gedächtnis einbrennen“, sagt Guido Unterwurzacher zwanzig Jahre später, im Sommer 2016, zu mir. Ich sitze ihm gegenüber auf einer Holzbank vor der Wochenbrunner Alm am Fuße des Wilden Kaisers.
Aus dem zwölfjährigen Buben ist inzwischen ein Profi-Kletterer und Bergführer geworden, der in Kirchdorf in Tirol eine Alpinschule betreibt. Aufgewachsen ist Guido in Going, an der Ostseite des Wilden Kaisers, direkt unterhalb von Hochgrubachspitze, Ackerlspitze und Maukspitze. Darum gefällt ihm diese Seite dieses Gebirges auch am besten: „Weil ich da schon als kleines Kind immer hochgeschaut habe.“
Guidos Wunderwelt
Es ist noch nicht mal sieben Uhr morgens. Guido kommt direkt von einer Kletterpartie in den Dolomiten, er wirkt müde. Heute wandert er mit mir zur Hinteren Goinger Halt. Sie gilt als der am einfachsten erreichbare Kaisergipfel im Bereich des Ellmauer Tores. Das Schönste hier ist definitiv die Aussicht auf die steil abfallenden Felswände von Fleischbank, Christaturm, Totenkirchl oder Predigstuhl. Von dort aus hat man einen guten Ausblick auf einige bekannte Kletterrouten am Wilden Kaiser. Sie tragen wunderliche Namen: Goinger Wunderwelt. Des Kaisers neue Kleider. Buhl Quergang. Spiel der Narren.
Für ihn sei das Klettern nie eine rein sportliche Betätigung gewesen, sagt Guido, sondern die Suche nach dem Abenteuer. Und das fand er direkt vor seiner Haustür. 2009 schaffte Guido mit „des Kaisers neue Kleider“ die Wiederholung einer der schwierigsten Mehrseil-Routen gesamten Alpenraum. Diese Route bewegt sich teilweise im oberen zehnten Schwierigkeitsgrad. Der maximal mögliche Schwierigkeitsgrad im Klettern liegt derzeit bei Elf. „Da spielt neben der Fitness auch die mentale Geschichte, also dass man nicht die Nerven verliert, eine große Rolle.“
Im Schatten des Wilden Kaisers wandern wir los. Felswände verdecken die inzwischen längst aufgegangene Sonne noch immer. Der Himmel leuchtet makellos blau und verspricht einen heißen Sommertag. Guido trägt kurze Hosen, Turnschuhe, T-Shirt, rotes Fleece, Rucksack und Sonnenbrille. Ein ganz normaler Wanderer eben. Allerdings einer, der 65 Jahre nach dem berühmten Alpinisten Hermann Buhl den legendären „Buhl Quergang“ erstmals frei durchkletterte, im neunten Schwierigkeitsgrad. Vorbei an den alten Originalhaken, an welchen sich Buhl damals – vor sieben Jahrzehnten – wohl hinüberhangelt hatte, wie Guido vermutet: „Bei allem Respekt vor dem Herrn Buhl, aber im neunten Grad ist er wahrscheinlich nicht geklettert mit den genagelten Schuhen oder den Filzpatschen.“
„Eine Mischung aus Spielplatz und Labyrinth“ nennt Guido den Wilden Kaiser. Ich schaue während unserer Wanderung immer wieder nach oben. Links von uns, mitten in einer mächtigen Felsflanke erkenne ich drei oder vier farbige Punkte. Eine Seilschaft, die sich gerade an einer der unzähligen Routen hier versucht. Neben solcher gut gesicherten Sportkletterrouten gibt es am Kaiser noch immer alte Routen, die so aussehen wie zu den Zeiten von Hermann Buhl vor sechzig, siebzig Jahren. „Das ist das Interessante am Wilden Kaiser“, sagt Guido zu mir, „das ist wie lebendiger Geschichtsunterricht. Man erlebt immer noch hautnah mit, was die Leute damals vollbracht haben.“
Abschluss an der Kletter-Uni
Wir erreichen das Ellmauer Tor und machen eine Pause. Guido setzt sich auf einen Felsen und lehnt sich zurück. Hier oben öffnet sich der Blick hin zur wilden Nordseite des Kaisergebirges. Guido erzählt mir von seinem Onkel Tom, der bei einer Bergtour im Zillertal direkt neben ihm dreißig Meter weit abstürzte und sich dabei mehrere Wirbel brach. Bei diesem Unfall habe er gemerkt, dass Routine das Gefährlichste sei, sagt Guido. „Angst ist für mich eine Alarmglocke, die mir sagt: Okay, jetzt musst Du Dich konzentrieren. Sie hemmt mich aber nicht. Ich weiß, wenn ich jetzt keinen Fehler mache, dann geht das gut aus.“
Am Wilden Kaiser hat Guido alles gelernt, was er heute über die Berge weiß. „Nach der Begehung von ‚Des Kaisers neue Kleider‘ hat sich das für mich wie ein Abschluss an der Kletter-Uni angefühlt.“ Diese gesammelten Erfahrungen nutzte Guido auf anderen Bergen der Welt. Zum Beispiel in Patagonien. Pakistan. Marokko. Alaska. Kanada. „Das Schöne ist dann trotzdem immer das Heimkommen. Man muss sich gar nicht so sehr umschauen und nach Abenteuern suchen, weil die oft hinter der eigenen Haustür warten.“
„Oben lassen sie ihre Maske fallen“
Seine Erfahrungen gibt Guido als Bergführer an andere weiter. Für ihn sei es immer eine intensive Erfahrung, wenn er mit einem guten Freund oder mit einem Gast in die Berge gehe, erzählt er. „Ich denke mir immer: Du bist jetzt dafür zuständig, dass der Gast einen sicheren, unvergesslichen und lässigen Tag hat.“ Guido kennt das Gefühl, eine schwierige Route geschafft zu haben, genau. „Jeder hat vor dem Aufstieg seine Maske auf, spricht noch von seinem Können und seinem technischen Wissen. Erst auf dem Weg nach oben – oder am Gipfel – lassen die Menschen ihre Maske fallen und zeigen, wer sie wirklich sind. Das sind die Begegnungen, wegen denen ich den Beruf des Bergführers so gerne mag.“
Das Kletterrevier am Wilden Kaiser sei für ihn auch als Bergführer ideal, weil man die Zustiege schnell erreiche und man schöne Klettertouren machen könne – sowohl mit Anfängern oder Familien, als auch mit Fortgeschrittenen. „Für uns ist es der ideale Standort, um auch Kletterkurse anzubieten – für solche, die das Klettern lernen und andere, die sich weiterbilden wollen.“ Meistens klettert Guido mit seinen Gästen entlang leichter Grate im dritten oder vierten Schwierigkeitsgrad. Immer häufiger bekommt er inzwischen auch Anfragen von Leuten, die auch mal eine schwierigere Route klettern möchten, sich das alleine aber noch nicht zutrauen.
Als Guidos heutiger Gast genieße ich unsere Bergwanderung zur Hinteren Goinger Halt sehr, auch wenn das für ihn vielleicht nicht in die Kategorie „Abenteuer“ fällt. Wir queren einen Hang und kraxeln über ein paar Felsstufen. Schließlich erreichen wir den Gipfel in 2.192 Metern Höhe. Guido klettert fürs Foto auf eine Felsnadel neben dem Gipfel, von Müdigkeit ist bei ihm nun nichts mehr zu bemerken. Wenn der „Koasa“ ein Mensch wäre, welchen Charakter der wohl hätte? „Der Wilde Kaiser wäre ein cooler Typ, mit dem man gerne auch ein Bier trinkt“, sagt Guido, „der voll motiviert ist, lustig drauf ist. Aber er kann auch zornig sein und durchaus mal eine Schelle austeilen.“
Schlafen über dem Abgrund
Guido hält eine Überraschung für mich bereit. Davor gehen wir nochmal bergab, zurück zum Ellmauer Tor. Er habe heute Nachmittag noch einen Termin beim Stanglwirt, erzählt mir Guido. Ich überlege mir, wie er das anstellen will. Zu Fuß würde selbst ein fitter Sportler wie er für den Weg ins Tal viel zu lange brauchen, um rechtzeitig dort zu sein. Guido grinst nur.
Er erzählt mir von seinen Kletter-Projekten, zum Beispiel am El Capitan im Yosemite Valley. „Das ist voll geil, wenn man fünf, sechs Tage in der Wand abhängt, in der Wand schläft und Essen und Trinken in der Wand dabeihat. Man schläft in einem Porterledge, einer Art Matte, die man ausklappen kann. Über einem 800-Meter-Abgrund. Das ist, was mich zurzeit am meisten reizt.“ Ich grinse auch und stelle mir vor, wie entspannend es wohl ist, über einem hunderte Meter tiefen Abgrund hängend zu schlafen. „Aber es gibt nichts Besseres, als ein gesundes Kind“, schiebt Guido nach und meint damit seinen – zum Zeitpunkt unseres Treffens – eineinhalb Jahre alten Sohn Xaver. „Das ist das Größte Geschenk.“ Irgendwann möchte Guido auch seinem Sohn zeigen, was er am Leben so mag: Bergsteigen und Klettern. „Wenn es ihn interessiert, zeige ich ihm meinen Weg. Ich würde es natürlich schön finden, wenn es ihm auch so gefallen würde wie mir. Aber das muss nicht sein.“
Wir sind wieder beim Ellmauer Tor. Die Wanderung zurück ins Tal schaffen wir auch problemlos ohne Bergführer. Also stellt Guido seinen Rucksack ab und zieht etwas heraus, das aussieht wie ein Fallschirm. Oder wie ein Paragleit-Schirm. Beide Annahmen sind falsch, denn es handelt sich um einen Speedglider, wie Guido mir erklärt, eine Art abgespeckter Paragleiter. Die kleinere Tragfläche macht diese Dinger unheimlich schnell, viel schneller als einen Paragleiter. Und Guido will nun damit talwärts fliegen. Er läuft los und hebt mit seinem Speedglider vom Boden ab. Wanderer bleiben stehen und schauen ihm nach. Münder stehen offen, Finger zeigen auf den Speedglider. Die meisten von uns bleiben lieber am Boden. Guido fliegt.
Vom Großglockner bis zur Wildspitze, vom Großvenediger und dem Wilden Kaiser bis zum Olperer: In einer fünfteiligen Porträtserie erzählen wir diesen Sommer die Geschichten von fünf Tiroler Bergführern und ihren Hausbergen.
Falls ihr auch mit Guido Unterwurzacher oder einem seiner Kollegen am Wilden Kaiser auf (Kletter-)Tour gehen wollt, findet ihr hier den Kontakt: www.alpinschulerocknroll.at