Auf höchstem Niveau
Der neuseeländische Profi-Radfahrer George Bennett absolvierte heuer erstmals mit seinem Team LottoNL-Jumbo ein Höhentraining im Kühtai. Im Interview spricht er über die Effekte des Trainings auf über 2.000 Metern Höhe, die Erwartungen an die Rad-WM im Herbst und das Gefühl, dabei gegen die eigenen Teamkollegen zu fahren.
Wie können Sportler von einem Trainingslager auf über 2.000 Metern profitieren? George Bennett: Der Hauptgrund, der für ein Training in Höhenlage spricht, ist der Umstand, dass man in der Höhe weniger Sauerstoff aufnimmt und der Körper gezwungen ist, sich an diese veränderten Gegebenheiten anzupassen – vor allem dann, wenn man sich längere Zeit in Höhenlage aufhält. Man produziert etwa mehr rote Blutkörperchen und mehr Mitochondrien, um den Sauerstoffverlust auszugleichen. Ein weiterer Vorteil ist, dass man sich bei einem Trainingslager in einem sehr konzentrierten Umfeld befindet, zusammen mit dem Team und dem gesamten Trainerstab. Hier im Kühtai muss man nicht zuletzt auch jeden Tag am Ende des Trainings einen wirklich großen Hügel hinauffahren, das ist wirklich hart. Es gibt also einige Punkte, die für ein Höhentraining sprechen.
Wie sieht euer Training hier im Kühtai aus? Gibt es Unterschiede zum „normalen“ Training? Ja, man kann sagen, dass man die Intensität reduziert, aber dafür den Umfang erhöht. Wir fahren sehr viel in den Bergen, stundenlang, erledigen ein großes Pensum. Die Feinheiten und die wirklich intensiven Sachen machen wir dann nach dem Trainingslager, wenn wir uns wieder im Tal befinden.
George Bennett und das LottoNL-Jumbo-Team beim Trainingslager im Kühtai.
Wie viele Kilometer und Höhenmeter bewältigt ihr hier im Durchschnitt? Zuletzt haben wir beispielsweise über 200 Kilometer und 4.500 Höhenmeter zurückgelegt, das war ein langer Tag für uns. Es geht fast nicht, hier weniger als 3.000 Höhenmeter zu fahren – was perfekt für uns ist, denn allein die Anstiege haben schon positive Effekte, weil Muskeln beansprucht werden, die man beim Fahren in flachem Gelände nicht benutzt.
Was ist deiner Ansicht nach schwieriger, die Anstiege oder die Abfahrten? Die Anstiege. Die Abfahrten machen einfach nur Spaß. Ich mag zwar auch die Anstiege, weil es das ist, worin ich gut bin. Aber was die Abfahrten betrifft, sind wir im Grunde ja noch immer Kinder. Wir mögen es, so schnell wie möglich zu fahren, und haben Spaß dabei.
Ist es schwierig, sich an die Höhenlage zu gewöhnen? Für mich persönlich nicht. Ich habe eine Wohnung auf etwa 2.000 Metern in Andorra, und als Bergfahrer bin ich im Rahmen von vielen Trainingslagern auf der ganzen Welt unterwegs. Sprinter hingegen, die vielleicht nicht so oft in die Höhe kommen, brauchen wahrscheinlich eine gute Woche, bis sie sich an die Lage gewöhnt haben und richtig mit dem Training beginnen können.
Was für Probleme können bei einem Training in solcher Höhe auftreten? Es kommt oft vor, dass Fahrer beim Höhentraining automatisch genauso viel Gas zu geben versuchen, wie sie es im Tal tun würden – und das funktioniert nicht, wenn sie sich noch nicht an die Höhenlage gewöhnt haben. Oft befinden sie sich dann in richtig schlechter Verfassung, sind übertrainiert, und es braucht ein paar Wochen Ruhe, bis der Hormonhaushalt und das Körpergefühl wiederhergestellt sind. Es ist also auch immer ein bisschen Risiko mit dabei. Aber mit dem richtigen Team und etwas Erfahrung ist die Umstellung meist kein Problem.
Was sind die Herausforderungen und Besonderheiten beim Training hier im Kühtai? Eine der größten Herausforderungen ist sicher das Wetter. Man befindet sich schließlich in den Bergen, da können immer Gewitter auftreten. Zum anderen gehört viel Leiden mit zum Training dazu. Dafür kommt man allerdings auch in den Genuss wunderschöner Aussichten, vor allem auf lange Bergketten. Und nicht zuletzt hat das Training viele positive sportliche Auswirkungen, und das ist ja der Grund, warum wir hier sind.
Wie lange dauert es, bis man diese positiven Auswirkungen spüren kann? Man muss wahrscheinlich mindestens 17 oder 18 Tage in der Höhe sein. Dann merkt man den Unterschied aber, sobald man wieder runter ins Tal kommt. Manche haben vielleicht ein, zwei schlechte Tage danach, aber alles in allem dauern die positiven Effekte dafür auch ein bis zwei Monate an.
Die Effekte machen sich also schon unmittelbar nach dem Training bemerkbar? Ja. Dass man besser wird, merkt man auch schon während des Trainings selbst. Natürlich, man leidet trotzdem, hat vielleicht immer noch Schmerzen, aber dann wird es zunehmend einfacher. Ein guter Weg, um das zu messen, ist die Art und Weise, wie man den Berg hinaufradelt. Am ersten Tag fährst du vielleicht bei 250 Watt und hast eine richtig hohe Herzfrequenz. Beim zweiten Mal ist deine Herzfrequenz aber schon niedriger, dein Körper muss viel weniger arbeiten. Daran lässt sich erkennen, dass der Körper sich bereits angepasst und die nötigen Veränderungen vorgenommen hat. Und wenn du wieder runter ins Tal kommst, hast du mehr rote Blutkörperchen, mehr Mitochondrien, mehr Kapillaren – alles Dinge, die du in den drei Wochen in der Höhe aufgebaut hast.
Gibt es auch mögliche negative Effekte eines Höhentrainings? Ja, gibt es, allerdings nur für Sprinter, und auch nur, wenn man das Höhentraining falsch angeht. Hier im Kühtai ist es perfekt, weil man auch rasch vom Berg runterfahren und unten trainieren kann. Danny (van Poppel, Anm.) beispielsweise, unser Sprinter für die Vuelta a España, fährt den Berg runter und trainiert unten, in 500 bis 600 Metern Höhe. Dort absolviert er dann sein intensives Hochleistungstraining, und anschließend kann er entweder selbst oder im Auto wieder rauf ins Kühtai fahren. Wenn man es so handhabt, ist es kein Problem, der Schlüssel ist schlicht richtiges Management.
Welche Rolle spielen Höhentrainings im modernen Radsport? So wie sich die heutigen Rennen ausnehmen, würde ich sagen, dass Höhentraining unerlässlich ist, wenn man bei einer der großen Touren wie etwa der Vuelta a España oder der Tour de France gewinnen will. Niemand, der dort in die Top 15 oder Top 20 fährt, hat nicht auch ein Training in der Höhe absolviert.
Im Gegensatz zu vielen deiner Kollegen ist es dein erstes Trainingscamp im Kühtai. Wie gefällt es dir hier? Sehr gut, es ist wunderschön hier und sicher einer der schönsten Plätze, an denen ich bisher Trainingslager hatte. Die Umgebung mit den Gletschern und Bergen ist großartig, wir waren auch schon am Timmelsjoch und sind die Strecke des Ötztaler Radmarathons gefahren. Die Straßen sind ebenfalls in einem großartigen Zustand und gehören in dieser Hinsicht wahrscheinlich zu den besten in Europa.
Im September findet in Innsbruck die Straßenrad-WM statt. Habt ihr euch schon die Strecken angesehen? Ja, wir haben bereits einige Teile davon gesehen. Ich liebe die Streckenführung, und die Weltmeisterschaften sind ein großes Ziel für mich. Ich bin noch nicht sicher, ob ich beim Zeitfahren für das neuseeländische Team antreten darf, aber die Straßenrennen sind vielversprechend, es könnte die beste WM seit Jahren werden. Jedenfalls freue ich mich schon sehr darauf.
Was erwartest du dir von der WM? Oh, wir werden viel leiden. Mein persönliches Ziel ist klar: Wenn ich es in die Top 10 schaffen würde, ginge ein Traum für mich in Erfüllung. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel. Aber es ist besser, sich hohe Ziele zu setzen und diese im Zweifelsfall nicht ganz zu erreichen, als von vornherein beispielsweise nur auf Platz 20 oder so zu gehen.
Bei der WM fährst du für dein Land und damit auch gegen viele deiner Teamkollegen. Was ist das für ein Gefühl? Das ist wirklich seltsam. Ich habe das auch schon bei den Olympischen Spielen erlebt. Ich fahre mit diesen Jungs schon seit Jahren, und plötzlich sind wir Rivalen. Aber es ist auch schön, mal mit anderen Leuten anzutreten. Einige meiner besten Freunde sind Fahrer aus Neuseeland. Normalerweise fahren sie für andere Teams. Deshalb ist es etwas wirklich Besonderes, einmal im Jahr am selben Strang mit diesen Jungs zu ziehen.
Was ist das Besondere, wenn du mit dem neuseeländischen Team fährst? Wie gesagt, ich habe im Team einige meiner besten Freunde, und es ist ein großer Vorteil, dass man sich so gut kennt. Dadurch kann man in etwa voraussagen, was die anderen machen werden. Ein möglicher Nachteil ist, dass unterschiedliche Ambitionen aufeinandertreffen können, und es ist nicht leicht, das professionell zu sehen. Aber bei uns im neuseeländischen Team gibt es diesbezüglich eigentlich keine Probleme. Die Rollen sind klar verteilt, und jeder weiß, was er zu tun hat.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person:
George Bennett, geboren am 7. April 1990 in Neuseeland, ist seit 2015 Teil des LottoNL-Jumbo-Teams. Zu seinen größten Erfolgen zählen u. a. ein zehnter Platz in der Gesamtwertung der Vuelta a España (2016), ein achter Gesamtrang beim letzten Giro d’Italia sowie der Gewinn der Tour of California (2017). Bei der diesjährigen Tour of the Alps wurde Bennett zweimal Etappenzweiter, unter anderem in Innsbruck.