Aus der Krise klettern
Herr Schauer, erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie zum ersten Mal realisiert haben, welches Potential im therapeutischen Klettern stecken könnte?
Es gibt einen Patienten, den ich niemals vergessen werde: Er war einer meiner ersten Fälle, ein Mann Anfang dreißig, der dreimal wegen eines Gehirntumors operiert wurde. Zu Beginn hat ihn sogar der Schritt auf die weiche Bouldermatte überfordert. Das war unsere erste Therapieeinheit: aufstehen. Nach dreieinhalb Monaten ist er eine Route im vierten Schwierigkeitsgrad geklettert. Und das, obwohl man ihn schon abgeschrieben hatte. „Austherapiert“, hieß es damals. Nach so einer Kletterstunde in sein Gesicht zu blicken, war unbezahlbar.
Zu Ihnen kommen nicht nur Menschen, die neurologische Probleme haben. Wem kann das therapeutische Klettern sonst noch helfen?
Für das therapeutische Klettern gibt es hauptsächlich drei Anwendungsbereiche: Die Physio-, Ergo- und Psychotherapie. Zuletzt gab es eine ganze Reihe von spannenden Studien, die einen sehr positiven Effekt bei Menschen mit Angststörungen oder Depressionen festgestellt haben.
Dass sich Bewegung positiv auf die Psyche auswirkt, ist aber kein Geheimnis. Gerade in diesen Zeiten plagen viele Menschen ganz unterschiedliche Ängste und Sorgen. Warum soll da Klettern besser helfen als zum Beispiel Laufen oder Radfahren?
Beim Laufen oder Radfahren kann man immer noch weiterdenken. Wenn mich etwas beschäftigt, wenn mich eine Sorge, eine Angst oder sogar depressive Verstimmung plagt, dann kann ich diese Gedanken weiter hin- und herwälzen. Beim Klettern ist das unmöglich.
Weil ich beim Klettern instinktiv versuche, nicht herunterzufallen?
Ganz genau. Man ist so sehr damit beschäftigt, den nächsten Griff zu erreichen, dass schlicht keine Zeit bleibt, an die Firma, den Chef, an große Themen oder bloß an den Alltag zu denken. Die Patienten werden automatisiert aufgefordert, sich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren und können so aus ungesunden Denkmustern ausbrechen. „Instinktiv“ ist genau das richtige Wort. Das Klettern steckt tief in uns drin.
Auch in Menschen, die nicht in den Bergen aufgewachsen sind?
Ja. Bevor Kleinkinder zu laufen beginnen, müssen sie ihre Haltungsmuskulatur entwickeln. Die trainieren sie durch Krabbeln, aber vor allem, indem sie sich überall hochziehen. Entwicklungsphysiologisch betrachtet kommt das Klettern also vor dem Gehen. Das merkt man auch, wenn man mit Kindern in die Kletterhalle geht: Denen muss man nichts erklären. Erst mit der Zeit verlernen wir diese instinktiven Bewegungen.
Wahrscheinlich können sich die meisten Erwachsenen nicht vorstellen, zehn Meter über dem Boden an einer Kletterwand zu hängen.
Für mich gibt es so gut wie keine Person, für die das Klettern überhaupt nicht in Frage kommt. Die Leistung hat ja keine Relevanz, es geht nur um das Tun an sich. Der Patient mit dem Hirntumor hat die ersten Wochen den Boden nicht verlassen. Er ist an der Wand gestanden und hat die Griffe berührt, um sensorische Informationen ins Gehirn zu bringen. Das ist ja das Fantastische am Klettern: Jeder kann selbst definieren, wo für ihn die Komfortzone endet. Das entscheidende ist dann, sie langsam zu verlassen. Menschen, die depressiv sind oder unter Angststörungen leiden, kippen im übertragenen Sinne zu schnell in die Panikzone. Dann wird es auch schwer, sie da wieder rauszuholen. Beim Klettern kann ich genau definieren, wo meine Panikzone beginnt und mich an sie herantasten. Man muss lernen an den richtigen Stellen loszulassen, weil man sich ansonsten nicht weiterbewegen kann.
Und der Umgang mit dieser Angst hilft den Menschen auch im Alltag.
Die Therapieteilnehmer saugen eine ganze Reihe von Strategien auf, um in schwierigen Situationen ihre mentale Stärke zu bewahren. Dabei hilft auch, dass man nicht alleine Klettern geht. Man sieht, dass es auch andere Menschen mit ähnlichen Problemen gibt, außerdem muss man sich gegenseitig vertrauen und Verantwortung übernehmen. In mental belastenden Zeiten, gerade wie während der Corona-Krise, kann Klettern als therapeutische Aktivität eine wichtige Rolle in der Prävention von ernsteren psychischen Problemen spielen.
Wie meinen Sie das?
Für viele Menschen ist es immer noch extrem schwer, sich psychische Probleme einzugestehen. Es ist schon jetzt klar, dass sich die Krise auf eine große Zahl von Menschen sehr belastend auswirkt. Viele werden trotzdem nicht zum Psychologen gehen, dafür ist die Hemmschwelle zu hoch. Beim therapeutischen Klettern kann man das vermeiden: Da muss sich niemand „outen“, wer klettern geht, geht erstmal nur klettern – dass man eigentlich deshalb geht, weil man Ängste hat, fällt erstmal niemanden auf. Die Therapie ist beim Klettern mit dabei.
Sind Sie selbst schon mal aus einer Krise geklettert?
Ja. Vor fünf Jahren habe ich meinen älteren Sohn verloren – da bricht natürlich eine Welt zusammen. Zuerst bin ich einfach so weit wie möglich weg, nach Hawaii geflogen. Aber egal, wohin man flüchtet, man nimmt immer alles mit. Das war also auch keine Lösung. Ich habe das Klettern ursprünglich nicht in der Halle gelernt, sondern draußen in der Natur, wo ich erstmal ewig im vierten oder fünften Grad herumgekraxelt bin. Genau diesen Weg bin ich dann zurückgegangen: Ich bin viele leichte Mehrseillängentouren geklettert, habe irgendwo einen Gipfel mitgenommen. Das hat mir die Kraft gegeben, mich langsam wiederaufzurichten.
Wie sind Sie zum Klettern gekommen?
Ich komme eigentlich aus dem Judosport, aber irgendwann hat das Knie nicht mehr mitgespielt. Meine Tante hat mich dann zu einem Kletterkurs mitgenommen, obwohl ich mich nur eingeschränkt bewegen konnte. Sie hat nicht weitergemacht, aber ich war sofort süchtig.
Ihre Karriere als Klettertherapeut begann also mit einer Verletzung.
Ja, es kann gut sein, dass mir dadurch der Weg vorgezeichnet wurde.
Neben Ihrer Tätigkeit als Therapeut sind Sie auch Betreuer der österreichischen Kletternationalmannschaft. Was kann man von den Profis über den Umgang mit Krisen lernen?
Dass man sich nicht zu sehr auf die Situation oder das Problem konzentrieren sollte, sondern auf die Möglichkeiten, die einem weiterhin offenstehen. Das war auch jetzt in der Corona-Krise sehr interessant: Keiner unserer Athleten konnte sein normales Training absolvieren, aber jeder hat es irgendwie geschafft, sich Alternativen einzurichten. Der Fokus wird nicht auf das Problem gelenkt, sondern auf die Lösung.
Wenn man als Einsteiger die positiven Effekte des Kletterns für sich nutzen möchte – worauf sollte man dann achten?
Mein Tipp ist immer, zunächst mal einen Klettergrundkurs zu machen. Wenn man die Grundlagen gleich zu Anfang von jemanden vermittelt bekommt, der das kompetent kann, kommt das Selbstvertrauen und letztlich auch die Freude von alleine.
Gibt es einen Ort, wo das besonders gut gelingt?
Mein Lieblingsgebiet ist die Leutasch bei Seefeld. Dort findet man von sehr leichten, bis sehr schwierigen Routen alles. Gleichzeitig ist die Landschaft da oben wunderschön. Hier kann ich mich perfekt entspannen.
Markus Schauer ist ein Pionier in der Verknüpfung von Psychotherapie und Bergsport, er hat ein therapeutisches Kletterzentrum mitgegründet und an der privaten Universität UMIT in Hall in Tirol gelehrt. Außerdem ist er Betreuer der österreichischen Kletternationalmannschaft.