Weltraum Wanderung
Wer etwas sehen möchte, was man sonst kaum mehr erkennen kann, sollte die Dunkelheit suchen. Denn es ist das Licht der Städte, das den Blick in die Sterne trübt. Eine Reise ins Tiroler Herz der Finsternis – mit galaktischer Aussicht.
Es sieht nicht so aus, als würden sich die Wolken bald verziehen. Aus dem grauen Himmel fällt Nieselregen. Auf der Holzterrasse am Krahberg hat sich in der Abenddämmerung ein Grüppchen wetterfest eingepackter Beobachter versammelt. Die Kapuzen sind eng zugezogen, Stirnlampen leuchten. Durch feine Regenschleier hindurch können wir weit über das dunkle Tal mit seinen vereinzelten Lichtflecken schauen. „Die Terrasse zeigt nach Süden“, erklärt Norbert Span. „Weil wir so den besten Blick auf die Sterne haben – und die Milchstraße. Das ist erst mal ein emotionaler Moment.“
An diesem feuchtkalten Juliabend müssen wir auf den emotionalen Moment noch warten. Wir sind zu Besuch in Tirols erster Volkssternwarte, auf 2.200 Metern Höhe am Venet im Tiroler Oberland – seit dem vergangenen Jahr ist sie abends für Besucher offen. Der Standort der Sternwarte Venet ist ideal, nah an Seilbahn und Gipfelhütte, sodass Besucher einen Blick durchs Teleskop mit einer Übernachtung verbinden können. Und das Licht der Gemeinde Landeck wird durch den Berg komplett abgeschirmt.
Dr. Norbert Span, ein Geophysiker und Meteorologe, der für die Projektplanung verantwortlich war, schult an diesem Abend zukünftige Sternen-Guides. Es ist ein buntes Grüppchen von Einheimischen, die sich privat für die Sternwarte engagieren. Das Vorwissen ist unterschiedlich, keiner hat Erfahrung als Fremdenführer für die Milchstraße. Span kennt sich aus. Seit 40 Jahren beschäftigt er sich mit Teleskopen, seit vielen Jahren macht er dazu Astrofotografie. Er erklärt nicht nur, wie die Instrumente funktionieren. Er will auch vermitteln, wie man Besucher für den Sternenhimmel begeistert.
Dr. Norbert Span
Der Meteorologe und Geophysiker war für die Projektplanung der Volkssternwarte am Venet verantwortlich. Seit Kindheitstagen ist er von Teleskopen und der Sternenbeobachtung fasziniert. Seine Gedanken und Bilder hat er 2017 in dem Band „Berge unter Sternen“ veröffentlicht (Knesebeck Verlag).
„Am Anfang frage ich die Leute immer: Wer hat schon mal sein eigenes Tierkreiszeichen am Himmel gesehen? Die gerade sichtbaren Zeichen suchen wir von der Terrasse aus.“ Dann folgt im Begrüßungsraum eine kurze Einführung. In diesem Raum gibt es nur rotes Licht. Es blendet weniger als weißes und sorgt dafür, dass Augen, die sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt haben, sich nicht erneut auf Tageshelligkeit umstellen. Wir bekommen an einem Computermonitor eine kurze Einführung zu all dem, was sichtbar wäre, wenn sich denn endlich die Wolken verziehen würden. Danach geht es über eine Treppe hinauf in die 5,5 Meter breite Kuppel. Wenn sich das Plexiglas mit leisem Surren dreht, weiß man im ersten Moment nicht, ob sich das Dach bewegt oder der Boden. In der Mitte, erhöht auf einem Sockel, steht das Spiegelteleskop – es hat das Format einer kleinen Tonne. Darauf ist zusätzlich eine schmale Röhre montiert, ein Sonnenteleskop für die Beobachtung bei Tag. Und da es in einer Volkssternwarte auch um das visuelle Erlebnis geht, sollte man laut Span erst mal etwas Spektakuläres anvisieren.
meinTirol-Magazin
Dieser Artikel ist aus dem meinTirol Magazin. Unter www.tirol.at/abo können Sie das Magazin abonnieren und bekommen jede Ausgabe kostenfrei nachhause in den Briefkasten.
Wie den Saturn. „Das haut die Leute meistens um, wenn sie zum ersten Mal die Saturnringe sehen.“ Er übertreibt nicht. Selbst in einem kleineren Teleskop ist der Anblick der Ringe spektakulär. Überraschend, wie scharf sich die hellen Bahnen vor dem dunklen Hintergrund abzeichnen. Mit dem motorbetriebenen Gerät kann man den Blick auch über die stark vergrößerten Kraterränder der Mondoberfläche streifen lassen; es fühlt sich an, als würde man selbst in geringer Höhe über den Mond fliegen. Sternwarten bieten ein unvergleichliches Erlebnis: Keine Simulation wie in Planetarien, sondern den Blick auf die realen Objekte. Wer in den Sternenhimmel schaut, sieht einen Teil der Natur, der für uns nicht mehr selbstverständlich ist. Unter Astronomen, Medizinern und Biologen ist „Lichtverschmutzung“ ein viel diskutiertes Thema. Der unbedachte Einsatz von zu heller oder blendender Straßen- und Gebäudebeleuchtung hat negative Folgen für die Tierwelt und beeinträchtigt nebenbei unseren gesunden Schlaf.
Dr. Norbert Span, ein Geophysiker und Meteorologe, bildet Interessierte zu Sternen-Guides aus.
Viele Menschen wissen – und erleben –, dass es in ihrer Umgebung nachts kaum noch dunkel wird. Was dadurch alles unsichtbar wird, wissen allerdings die wenigsten: An einem wirklich dunklen Ort kann man nachts ungefähr 3.000 Sterne sehen. Am Stadtrand sind es – mit Glück – kaum hundert. Schätzungen zufolge können 60 Prozent der Europäer von ihrem Wohnort aus niemals die Milchstraße sehen. Und an die 99 Prozent leben in einer „lichtverschmutzten“ Umgebung. Die Lichtglocke einer großen Stadt reicht circa 160 Kilometer weit. Das heißt: Wir haben einen Teil unserer Umwelt weitgehend unsichtbar gemacht. Das könnte eine Erklärung für die Faszination von Sternwarten sein, die gewissermaßen eine Lücke in unserem Weltbild füllen können.
Tiroler Sterne
Die einzige Sternwarte Tirols liegt an der Bergstation der Bergbahn auf dem Venet – übernachten kann man in der Venet Gipfelhütte. Informationen und Termine für Sternbeobachtungen unter: www.venet.at
Details zu geführten Sternenwanderungen im Kaunertal unter: www.kaunertal.com
Es gibt sogar Menschen, die der Dunkelheit nachreisen. Span gehört auch zu ihnen, als passionierter Astrofotograf. „Viele fliegen nach Chile oder nach Namibia, um die Sterne zu sehen. Oder Polarlichter – auf den Lofoten bekommst du kein Zimmer mehr.“ Rund um Orte ohne Lichtverschmutzung hat sich ein nachhaltiger Tourismus gebildet. Die „International Dark Sky Association“ vergibt Auszeichnungen für Städte und Regionen, „Sternenparks“ werben mit ihrem von künstlichem Licht unbehelligten Nachthimmel. Und sie liegen nicht alle in der Atacama-Wüste. Auch in Mitteleuropa gibt es Gegenden, die von den großen „Lichtglocken“ der Ballungszentren abgeschirmt sind.
Einer dieser Orte befindet sich im Kaunertal in Tirol. Wanderer und Bergsteiger lieben die Gegend, weil der Massentourismus fern ist und die Natur weitgehend intakt. Aber auch nachts hat das Tal einen besonderen Reiz: Am südlichen Ende, wo es sich zum Gletscher hin verjüngt, gibt es so gut wie kein künstliches Licht. Seit drei Jahren gibt es geführte Nachtwanderungen.
„Wir sind zu einer ungewöhnlichen Zeit an einem ungewöhnlichen Ort. Wir erleben etwas, das man sonst nicht erleben kann“, sagt Andreas Hudler von der Tiroler Umweltanwaltschaft. Schon seit mehr als 15 Jahren macht die Umweltanwaltschaft unter dem Motto „Die Helle Not“ auf Lichtverschmutzung aufmerksam. Sie unterstützt Projekte wie die Nachtwanderung im Kaunertal, weil sie helfen können, Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Dunkelheit, sagt Hudler, sei bei Weitem nicht nur für Astronomen wichtig. Ihre Bedeutung für das Ökosystem werde gerade erst erforscht: Wo der Mensch die Umgebung künstlich aufhellt, verschwinden nachtaktive Insekten. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Pflanzenwelt und auf andere Tiere. Lichtverschmutzung ist wie jede Form von Umweltverschmutzung die Störung eines Gleichgewichts, das der Mensch bisher kaum versteht.
Zum Gepatschhaus auf 1.928 Metern, wo die Wanderungen starten, führt eine befahrbare Straße. Von der Terrasse schaut man auf die weiße Gletscherzunge, weiter unterhalb liegt eine zwischen Berge eingebettete Talsohle mit grünen Wiesen und Zirben. Um die Dunkelheit zu erleben, reicht es nicht, bis zum Sonnenuntergang zu warten. Die Sonne muss weit genug unter dem Horizont stehen. Man unterscheidet zwischen drei Typen von Dämmerung, auf die „bürgerliche“ folgt die „nautische“ und schließlich die „astronomische Dämmerung“ – dann erst lohnt sich der Blick in den Sternenhimmel. Deswegen brechen wir erst gegen zehn am Abend auf. Die Mondphase ist ideal, kurz nach Neumond, aber schon wieder zeigen sich nach einem verheißungs- vollen sonnigen Tag Wolken am Himmel. Mit Rotlicht-Taschenlampen ausgerüstet, gehen wir querfeldein, über weiche Graskissen bis zu einem auffälligen Steinkegel, der wie eine Skulptur in der Landschaft steht – er markiert den Punkt, bis zu dem der Gletscher vor 150 Jahren reichte.
Wir gehen weiter bergab, überqueren einen schmalen Bach, wandern durch die Sohle des kleinen Tals, um uns die Umrisse der Zirben. Der Himmel ist jetzt so wolkenverhangen, dass kaum Sterne zu sehen sind, selbst die helle Wega über uns ist kaum zu erkennen. Philip Hughes, ein lokaler Guide, der die Nachtwanderungen als Astronomieexperte begleitet, erklärt, was man jetzt bei guten Bedingungen sehen könnte. Bei großer Dunkelheit erkennt man nicht nur viele Sterne, sondern auch deren Farbunterschiede, das Blau der heißen Sterne, das Gelb der mittelheißen, zu denen auch unsere Sonne gehört, und das Rot der kühleren Sterne, die sich im Alter oft gewaltig ausdehnen. Doch über uns bleibt es trüb. Durch das Sternbild Schwan reicht ein helles Band, es ist von den Wolkenstreifen, die überall am Himmel sind, nicht zu unterscheiden. Um uns rauscht der Bach, die Stimmen klingen gedämpft, während wir im Schein unserer Rotlichtlampen weitergehen, müssen wir auf den Weg achten. Denn dieser Teil des Tals ist wirklich enorm dunkel. Schwarz ragen die Berge um uns auf, die Bäume zeigen sich als Silhouetten, sonst ist keine Einzelheit der Landschaft erkennbar. Es gibt weit und breit kein elektrisches Licht, dort wo wir gestartet sind, am Gepatschhaus, schimmert schwach ein gelbliches Lichtquadrat, vielleicht das Küchenfenster.
Im Gepatschhaus am südlichen Ende des Kaunertals brennt kurz vor Mitternacht noch Licht. Sonst gibt es hier keine künstlichen Lichtquellen.
Nachtwanderer unterwegs mit Rotlicht-Taschenlampen in den Ötztaler Alpen.
Immerhin zwei Planeten sind schon deutlich sichtbar aufgegangen. Jupiter und Saturn leuchten im Süden, etwas oberhalb des Gletschers. Am Zenit bleibt es trüb, doch etwas unterhalb, um den großen Wagen herum, wird es klarer. Am ganzen Himmel schauen vereinzelt Sterne durch den Wolkenvorhang. Plötzlich zeigt sich ein erstes Highlight. Die ISS zieht vom großen Wagen aus quer über den ganzen Himmel. Wir sehen das große W der Cassiopeia, klar erkennbar. Den kleinen Wagen. „Etwa hier, etwas links davon, wäre jetzt die Andromeda-Galaxie“, sagt Philip Hughes. Es sieht so aus, als könnten wir doch noch Glück haben. Wir sind höchstens seit einer Dreiviertelstunde unterwegs, schon haben sich die Bedingungen total verändert.
Nach etwa einer Stunde, mitten auf dem Feldweg, passiert es: Wir wollen umkehren und schauen noch mal hinauf, als sich die Wolken endgültig verziehen. Die Sterne stehen dicht an dicht. Es müssen wirklich Tausende sein. Im Schwan hängt immer noch das graue Band, aber auf den zweiten Blick ist es gar kein Wolkenband: Die Milchstraße ist deutlich zu sehen, sie zieht sich bis zum Gletscher hinunter und verschwindet hinter dem Berg. Wir schauen noch einmal zu dem Fleck, wo „eigentlich“ die Andromeda-Galaxie stehen müsste, erkennbar als schwaches Lichtfleckchen, unsere größere Nachbargalaxie, die 2,5 Millionen Lichtjahre entfernt ist. Und das Fleckchen ist wirklich zu sehen.
In der Nacht stehen die Sessellifte in den Bergen still. Genau diese Ruhe und die absolute Dunkelheit locken immer mehr Besucher in die Tiroler Bergnacht.
Kaum 100 Sterne kann man in einer Vorstadtnacht am Himmel erkennen – in den Bergen sind es viele Tausend (und dazu noch die Andromeda-Galaxie und Raumstationen).
Am Tiroler Nachthimmel über dem Kaunertal leuchten die Sterne – die Bergketten schirmen künstliches Licht weitgehend ab.
Die bekannten Sternbilder, die man am Stadtrand leicht erkennt, sind dagegen in dem Geglitzer kaum noch auszumachen. Ein Wow-Effekt. Der Vorhang ist weg. Und jetzt entfaltet die Dunkelheit wirklich ihre volle Wirkung. Andreas Hudler und Philip Hughes halten ein Messgerät in den Himmel. Es zeigt 21,36 mag/arcsec². Das ist ein Wert, der ausreicht, um von der „International Dark Sky Association“ den Titel „Sternenpark“ verliehen zu bekommen.
Wir tappen langsam zurück. Ein wenig paradox ist es schon, den Blick auf den Boden zu senken, um nicht zu stolpern, während über einem der spektakulärste Himmel funkelt. Immer wieder bleiben wir kurz stehen, die Hälse gereckt. Die Umrisse der Milchstraße zeigen sich jetzt klar, sie ist kein gleichmäßiges Band, sie hat Einschnitte und Kurven und flächige Verdunkelungen. „Wolken aus Staub“, sagt Philip Hughes. „Sie verdecken den Blick auf das Zentrum unserer Galaxie.“
Unsere roten Lichtkegel zuckeln langsam wieder in Richtung Gepatschhaus. Es war zwar dunkel, aber nie still: Das Rauschen des Bachs hat uns die ganze Zeit begleitet. Und schließlich stehen wir wieder auf der steinernen Terrasse. In der Küche des Hauses brennt wirklich noch Licht. Es ist weit nach Mitternacht.
Was haben wir hier gemacht? Eine Nacht im Dunkeln verbracht. Das klingt selbstverständlich. Und doch ist es heute etwas Besonderes: Wir haben die Milchstraße gesehen. Wie es Menschen zu allen Zeiten konnten, bevor wir diesen Teil der Natur wegknipsten: Und das ist erst mal ein emotionaler Moment.
Sterne gucken für Einsteiger
In den Bergen leuchten die Sterne besonders prächtig. Wie man schon vor seinem nächsten Ausflug nach Tirol erste Erfahrungen im Sternegucken sammeln kann, erklärt Dr. Norbert Spahn.