Schwebende Wunderwerke – Die Wildspitzbahn am Pitztaler Gletscher
Es sind gerade mal sieben Kilometer Luftlinie von Sölden im Ötztal, wo wir die Giggijochbahn porträtiert haben, bis zum Pitztaler Gletscher. Aber mit dem Auto brauchen wir knapp zwei Stunden. Könnte man nicht direkt, irgendwie, einfach so über die Berge? Da kommen wir auch schon am Parkplatz der Talstation an und treffen Heiko Rauch, den stellvertretenden Betriebsleiter. Von ihm erfahren wir, dass die Verbindung der Skigebiete Pitztaler Gletscher und Sölden vielleicht schon bald Realität wird. Das Projekt ist bereits zur Prüfung eingereicht.
Aber wir sind ja wegen der Wildspitzbahn hier. Die höchste Seilbahn in ganz Österreich mit ihrer Bergstation auf 3.440 Metern.
Nach der kurzen Fahrt mit der Standseilbahn „Pitzexpress“ befinden wir uns direkt im Zentrum der Pitztaler Gletscherwelt. Von hier erstrecken sich die Lifte wie die Finger einer Hand zu den Gipfeln und Scharten des Skigebiets. Direkt vor uns: Die Wildspitzbahn. Das geschwungene Dach glitzert im Gegenlicht der Morgensonne und lässt es mit den Eis- und Schneeflächen im Hintergrund verschmelzen. Unser Blick wandert weiter zur Bergstation auf dem Grat des Hinteren Brunnenkogels. Die namensgebende Wildspitze – übrigens mit 3.770 Metern der höchste Punkt Tirols – erhebt sich knapp drei Kilometer weiter südlich.
Noch fahren die Seilbahnen nicht, deshalb nutzen wir die Ruhe und das Morgenlicht, um die faszinierende Architektur der Talstation einzufangen: Die fließenden Formen des Daches und die großen verspiegelten Glasfronten, in denen sich ein perfektes Alpenpanorama spiegelt. Währenddessen hat Heiko mit der Routineüberprüfung von Europas höchster Photovoltaikanlage direkt gegenüber der Talstation begonnen. Auf die ist er fast ebenso stolz wie auf die Wildspitzbahn: „Die Photovoltaikanlage am Gletscher ist ideal. Wir bekommen bis zu 40 Prozent mehr Strom als im Tal, weil die Luft hier oben so sauber ist, die Sonne stärker strahlt und der Schnee die Strahlung nochmal reflektiert. So können wir ein Drittel des Stromverbrauchs unserer Anlagen abdecken.“
Genau in diesem Moment verlassen die ersten Gondeln die Talstation der Wildspitzbahn. Jetzt geht‘s endlich hoch zur Bergstation – und vor allem hoch zum ersten Kaffee des Tages in Österreichs höchstem Café. Die Fahrt in der 2012 errichteten Einseil-Gondelbahn ist entspannt und komfortabel. Innen liegende Skiständer machen den Einstieg entspannt und die 61 Achter-Kabinen sind mit Sitzheizung ausgestattet. In fünfeinhalb Minuten erreichen wir die 591 Meter höher liegende Bergstation. Und von der sind wir wirklich beeindruckt. Heiko bringt es auf den Punkt: „Sie fügt sich perfekt in die Strukturen hier am Gletscher ein und ist einfach wunderschön – ich könnte mir keinen besseren Arbeitsplatz vorstellen.“
Dann endlich der herbeigesehnte Kaffee im Café 3440. Hier wird deutlich, dass die gesamte Architektur dem Ziel untergeordnet ist, von überall den maximalen Ausblick auf die großartige Tiroler Bergwelt zu ermöglichen: Die Zugspitze im Norden, Ötztaler und Stubaier Alpen im Osten, Ortler im Süden der Arlberg im Westen. Und die Hauptdarstellerin: Die Wildspitze mit dem Taschachferner. Wir kommen mit der Bedienung ins Gespräch und erfahren, dass in dieser Höhe alles seine eigenen Regeln hat: Die Zapfanlage muss je nach Wetterlage – Tiefdruck oder Hochdruck – passend eingestellt werden und der Kaffee schmeckt nur, wenn man ein bisschen mehr einfüllt als im Tal. Das scheint gut zu funktionieren, denn der Cappuchino ist wirklich gut hier oben.
Dass die Höhe nicht nur die Maschinen beeinflusst, sondern auch die Menschen, merken wir auf der Treppe zur Aussichtsplattform: Als wir oben ankommen, rast unser Puls und wir müssen eine Weile warten, bevor ein ruhiger Kameraschwenk über das grandiose Alpenpanorama möglich ist.
Bei einem Flug mit der Kameradrohne sehen wir die Bergstation nochmal aus einer faszinierend neuen Perspektive: Von oben wirkt die Röhre, in die die Gondeln ein- und ausfahren, wie das Körperglied eines Krustentieres, das sich unter die Kuppel des Cafés schiebt. Das Café wiederum orientiert sich etwas seitlich zur Wildspitze hin. Die Luftaufnahmen zeigen auch, wie wenig Platz auf dem Grat vorhanden ist – gerade einmal 200 Quadratmeter bemisst die Aufstandsfläche der Bergstation. Welche Herausforderung die Bauarbeiten hier oben bedeutet haben, erfahren wir von Heikos Chef, Betriebsleiter Reinhold Streng: „Natürlich ist da die Höhe. Viele, die hier arbeiten, haben am Anfang Kopfschmerzen und Schwindel. Jeder braucht eine Zeitlang, bis er sich an die Höhe gewöhnt. Aber noch viel mehr hat uns das extreme Wetter hier oben zugesetzt. Und es führt ja kein Weg hier hoch. Wir mussten alles mit der Materialseilbahn und dem Hubschrauber transportieren.“ Besonders stolz ist Reinhold darüber, dass man keine Leitungen sieht: „Strom-, Wasser- und Abwasserleitungen haben wir durchgehend im Felsen verlegt und die laufen auch bis runter ins Tal. Nichts bleibt am Gletscher.“

Nach dem Interview mit Reinhold setzen wir uns noch einmal auf die freischwebende Terrasse des Cafés 3440 – immerhin sollte man in dieser Höhe ja besonders viel trinken. Neben uns genießt ein Rentnerpärchen in Moonboots Kaffee und Kuchen, uns gegenüber macht eine Familie mit Kinderwagen Brotzeit. Und das auf 3440 Metern! Dass auch Nicht-Alpinisten an diesen extremen Ort gelangen und den grandiosen Ausblick genießen können, ist vielleicht der größte Verdienst der Wildspitzbahn.
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Die Erfindung von Lift und Seilbahn hat viele Gipfel auch für Nicht-Bergsteiger zugänglich gemacht. In dieser Serie zeigen wir sechs außergewöhnliche Bergbahnen, die bis heute Begeisterung wecken können.