Bergführer im Porträt: Matthias Wurzer und der Großglockner
Ein junger Mann hockt am 3.798 Meter hohen Gipfel des Großglockners und schaut in die Ferne. Sein Stirnband ist mit Totenköpfen bedruckt, die Augen hinter einer verspiegelten Sonnenbrille versteckt, die langen Haare zusammengebunden. Matthias Wurzer, 32, ist kein Rockstar. Er ist Bergführer. Ich folge seiner Blickrichtung. Irgendwo dort drüben liegen die drei Zinnen, eine bekannte Gipfelformation im benachbarten Südtirol. Ich muss mich konzentrieren, um sie zu erkennen. Und genau das mache für ihn den Unterschied zum Großglockner aus, sagt Matthias: „Wenn du von den drei Zinnen aus zum Alpenhauptkamm schaust, dann ist klar, welcher der Großglockner ist. Denn das Ding steht einfach da, es hat eine markante Form.“ Das Ding, nämlich der Großglockner, ist seit mehr als einem Jahrzehnt der Arbeitsplatz von Mattias Wurzer. Diesen Berg kennt er schon ein Leben lang.
„Die haben mich nicht für voll genommen“
Am Spöttlinghof ist er aufgewachsen, einem Bauernhof ganz hinten am Ende des Kalser Tals. Später zogen die Eltern mit ihm nach Kals am Großglockner. Mittlerweile lebt er mit seiner Lebensgefährtin in der nächsten größeren Stadt, Lienz. Bauer wollte er nie werden. Dennoch besuchte er die Landwirtschaftsschule, machte eine Lehre als Schlosser. Wofür Matthias damals schon brannte, war das Klettern: „Der Toni Riepler hat mich früher oft mitgenommen. Der hat irgendwann den Bergführer gemacht, da war ich 15 oder 16 Jahre alt. Da habe ich mir gedacht: Schau an, das tät‘ ich auch gern.“ Er tat es und erhielt als 22-jähriger sein Bergführerabzeichen.
Was, Du bist unser Bergführer? Du bist ja so jung! – Diesen Spruch musste sich Matthias am Beginn seines Arbeitslebens am Großglockner immer wieder anhören: „Die haben mich nicht für voll genommen, weil ich brutal jung ausgeschaut habe. Die stellen sich unter einem Bergführer eher so einen gestandenen Mann vor.“ Jetzt, mit Anfang dreißig hört er diese Sprüche von seinen Kunden seltener.
Wir stehen am Gipfel, schauen hinunter zur Stüdlhütte. Aus der Ferne wirkt sie wie ein Spielzeughäuschen, obwohl sie mehr als hundert Bergsteigern Platz zum Übernachten bietet. Dort bin ich Matthias gestern Abend das erste Mal begegnet. Die Hütte ist einer der wichtigsten Ausgangspunkte für die Besteigung des Großglockners. Im 19. Jahrhundert finanzierte der Prager Kaufmann Johann Stüdl den Bau dieser Schutzhütte auf der Fanotscharte, unterhalb des Großglockners. Die nach ihm benannte Stüdlhütte wurde schließlich am 15. September 1868 eingeweiht, ein Jahr später gründete er in Kals den ersten Bergführerverein der Ostalpen. Die alte Stüdlhütte ersetzte der Alpenverein in den Neunziger Jahren durch einen Neubau, inklusive Solaranlage und Pflanzenölheizung.
Über das Sauwetter und den Südwandwächter
Wir steigen hinunter in eine Scharte, die den Groß- und und den Kleinglockner trennt – oder verbindet, je nach Blickwinkel. Noch immer kommen uns Gruppen von Bergsteigern entgegen, denn heute herrscht perfektes Gipfelwetter. Blauer Himmel und T-Shirts in über 3.700 Metern Seehöhe. Zahmer Wind kühlt unsere Gesichter. Ganz anders als am 5. April 2016. An diesem Tag erweiterte Matthias gemeinsam mit seinem Kollegen Vittorio Messini die Bergsteigergeschichte des Großglockners um ein neues Kapitel.
Es herrschte „Sauwetter“, wie Matthias es im Rückblick formuliert. Wurzer und Messini wagten mit Eispickeln und Steigeisen die Durchsteigung einer markanten Rinne an der Südseite des Glockners, welche zwischen dem Stüdlgrat und dem Südgrat des Glockners emporzieht. Noch nie zuvor hat ein Mensch diese Rinne komplett durchstiegen – eigentlich unglaublich an einem vielbegangenem Berg wie diesem. Den Schlechtwettertag haben die beiden bewusst gewählt, wegen der Steinschlaggefahr, die ansonsten in der südseitigen Rinne bei Schönwetter herrschen würde. Nordwandverhältnisse in einer Südwand und anspruchsvolle „Mixed-Kletterei“ erwarteten die beiden. Eine Mischung aus Fels- und Eispassagen. Sie schaffen es tatsächlich bis zur Glocknerscharte und weiter zum Gipfel. Matthias erinnert sich an diesen Moment: „Wenn Du da oben bei der Scharte aussteigst und dir denkst, das kann jetzt echt sein, dass hier noch keiner vor dir hochgegangen ist, das ist schon ein cooles Gefühl.“ Südwandwächter – so taufen Vittorio und Matthias ihr Meisterstück. Eine bisher unbekannte Seite, ein unbekanntes Gesicht des Glockners zu entdecken, das war es wohl, was die beiden angetrieben hat. Das habe ihn an dieser Sache mehr interessiert als Ruhm und Ehre, sagt Matthias.
Vom schmalen Grat zum Glück
Wir klettern von der Scharte hinauf zum Kleinglockner steigen ab zum Eisleitl, einem sehr steilen Schneefeld. Kurz lenkt mich der Ausblick auf die Pasterze ab, den größten Gletscher Österreichs. Jetzt nur nicht ausrutschen. „Glück und Leid sind am Berg ein ganz schmaler Grat“, hat Matthias gestern Abend erst zu mir gesagt. Diesen Leitsatz gab ihm sein Onkel, ebenfalls ein Bergführer, mit auf den Weg. Ich versuche mir vorzustellen, wie ein Schneesturm hier oben wohl aussehen würde. So wie im Oktober 2010, als Matthias für eine Rettungsaktion von drei polnischen Bergsteigern ausrückte: „Ich war da vier Tage oben, wir haben gesucht.“ Auf allen vieren krochen er und seine Kollegen den Berg hinauf, „weil wir sie lebendig finden wollten“. Ohne Erfolg. „Ich habe damals eine Leiche gefunden“, sagt Matthias. Eine Südstau-Wetterlage war den Bergsteigern zum Verhängnis geworden. „Wenn sie fünf Stunden vorher angerufen hätten, dann wäre der Hubschrauber hochgeflogen, hätte sie abgeholt und fertig.“
Der Hang wird flacher, wir dürfen uns wieder kurz aus dem Seil ausklinken, das uns miteinander verbindet und ziehen die Steigeisen aus. Ab jetzt ist’s nur noch ein Spaziergang, denke ich mir – zumindest bis zur Adlersruhe, auf der die Erzherzog-Johann-Hütte steht, mit 3.454 Metern Österreichs höchstgelegene Schutzhütte. Plötzlich rutsche ich aus, liege im Schnee, die Steigeisen entgleiten meinen Händen und fliegen meterweit weg. Durchatmen. Nichts passiert, zum Glück. Bei der Erzherzog-Johann-Hütte machen wir Pause. Vor uns liegt noch der Abstieg zur Stüdlhütte.
Matthias‘ allererste Tour auf den Großglockner führte ihn nicht an der Adlersruhe vorbei, sondern über den Stüdlgrat, „mit dem Riepler Toni“, erinnert er sich. „Da war ich ziemlich fertig am Gipfel. Klar, vom Tal weg sind es doch knappe 1.900 Höhenmeter.“ Matthias war damals zwölf Jahre alt. Der Stüdlgrat ist heute noch die Route, die er mit seinen Gästen am liebsten geht, auch im Winter: „Wir haben uns die Ski auf den Rücken gepackt. Der Grat war eingeschneit und wir sind da hochgeknetet – das war ein Wahnsinnserlebnis“, erzählt Matthias.
„Wirklich oben bist Du nie“
Wir müssen weiter. Auf uns wartet noch der Abstieg zur Stüdlhütte, quer über das Ködnitzkees – den Gletscher auf der Südseite des Großglockners. Wie überall in den Alpen ist auch er in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen. „Allein, was ich in den vergangenen 19 Jahren beobachtet habe, ist brutal“, erinnert sich Matthias und zeigt auf den Gletscher hinunter. Die Sommersonne hat das hartgefrorene Eis im Laufe des Tages aufgetaut, kleine Bäche durchziehen den Eispanzer. An warmen Tagen wie heute herrscht am normalen Rückweg Steinschlaggefahr. Matthias wählt daher die Alternativroute über den Mürztalersteig.
Ich folge ihm bis zu einem Felsabbruch über dem Gletscher, der sich gut zwanzig Meter unter uns erstreckt. Eigentlich wäre hier kein Weiterkommen, außer man seilt sich ab. Deshalb hat Matthias gemeinsam mit Kollegen mehrere Trittbügel und ein Stahlseil in dieser Felsflanke verankert. Und die nutzen wir nun. Auf der luftigen Leiter steigen wir hinunter zum Gletscher. Unten im Tal blitzt kurz etwas auf. Ist es vielleicht das Dach des Lucknerhauses? Eine Reise von dort bis zum Gipfel sei, so Matthias, „wie wenn du von Europa nach Grönland gehst.“ Tiere, Pflanzen, all das wechselt hier oben mit jedem weiteren Höhenmeter – und je nach Gesteinsart.
Wir stapfen über den Gletscher zurück zur Stüdlhütte. Wir waren tatsächlich oben, am Großglockner. Noch besser: Ich war oben. Aber ist es wirklich der reine Egoismus, der Bergsteiger antreibt? „In gewisser Weise schon“, sagt Matthias, „weil sonst gehen einige Sachen nicht. Wenn du dir die Sinnfrage stellst, warum du das tust, dann musst du sagen: Wirklich oben bist du nie.“
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Vom Großglockner bis zur Wildspitze, vom Großvenediger und dem Wilden Kaiser bis zum Olperer: In einer fünfteiligen Porträtserie erzählen wir diesen Sommer die Geschichten von fünf Tiroler Bergführern und ihren Hausbergen.
Falls ihr auch mit Matthias Wurzer oder einem anderen der Kalser Bergführer auf Tour gehen möchtet, findet ihr hier den Kontakt: www.bergfuehrer-kals.at