Aus sicherer Quelle
Fotos: Sarah Illenberger
Wie schmeckt eigentlich Wasser? Unser Autor hat in Tirol nach Antworten gesucht.
Wasser ist nicht gleich Wasser hat unsere Autorin gelernt.
An dem Tag, an dem ich das perfekte Wasser trinke, bin ich kurz vorm Verdursten. Zumindest fühlt es sich so an. Ich bin mit zwei Freunden zum Wandern in die Berge gefahren, und unser Getränkevorrat hat gerade eben bis zum Gipfel gereicht. Nun laufen wir bereits seit zwei Stunden in der prallen Sonne Richtung Tal, mein Kopf ist heiß, mein Mund fühlt sich an, als hätte ich in Sand gebissen. Plötzlich stehen wir vor einem Rinnsal, das eine Felswand herunterläuft. Ich presse meinen Mund gegen den Stein. Ein Kälteschock fährt in meine Lippen. Dann flutet das Wasser meinen Mund, meine Kehle. Ich schlucke. Mein ganzer Körper kribbelt, an den Armen bekomme ich eine Gänsehaut. Dann erst bemerke ich den Geschmack: frisch, rein, kristallin. Ich kann gar nicht genug bekommen, ich möchte das Wasser auf der Stelle in Flaschen abfüllen und nie wieder etwas anderes trinken.
Auf der Rückfahrt unterhalten wir uns darüber, was genau an dem Wasser so gut geschmeckt hat. Doch außer hohlen Beschreibungen wie eben „frisch“ oder „rein“ fällt uns nichts ein. Schließlich einigen wir uns auf die Geschmacksrichtung „Bergwasser“ und wechseln das Thema.
Aber mein Gehirn (das zu etwa 75 Prozent aus Wasser besteht) dürstet nach mehr Wissen, und ich beginne zu recherchieren. Die Österreicher, so erfahre ich, trinken 91,6 Liter Mineralwasser pro Kopf und Jahr und damit knapp sechs Liter mehr als vor zehn Jahren, bei den Deutschen sind es jährlich sogar 148,8 Liter. Ich lese von Wassersommeliers, die im Restaurant zur Spargel-Creme-Suppe das passende Wasser empfehlen und vom Berliner Starkoch Tim Raue, der seinen sizilianischen Brokkoli in Wasser der französischen Marke Evian kocht. Ist das Quatsch? Schmecken verschiedene Wasser tatsächlich unterschiedlich, oder bilden wir uns das nur ein? Wie kommt der Geschmack ins Wasser? Und wie finde ich das Wasser, das perfekt zu mir passt? Ich plane eine Bildungsreise an den Ort meines Erweckungserlebnisses, die Alpen. Tirol scheint für diese Reise ein gutes Ziel zu sein. Der US-amerikanische Food-Kritiker Jeffrey Steingarten beschreibt das ideale Trinkwasseraroma als „alpinen Quellgeschmack“. Berge und Quellen gibt es in Tirol zu Genüge. Außerdem soll das Wasser in Tirol besonders mineralisiert sein, also einen recht starken Geschmack haben, das interessiert mich. Konkret will ich vier verschiedene Mineralwasserproduzenten besuchen. Und somit aus erster Quelle Antworten auf meine Fragen bekommen.
1. Lektion
KEIN WASSER IST GLEICH.
Meine erste Station ist in Münster, eine halbe Autostunde nordöstlich von Innsbruck. Im Konferenzzimmer von Rieder’s Quellenbetrieben empfängt mich Geschäftsführer Robert Schausberger und legt gleich los: „Unser Unternehmen produziert ausschließlich Mineralwasser auf höchstem Standard.“ Schausberger ist ein hochgewachsener Herr mit grauem Haar, randloser Brille und der natürlichen Autorität eines Bergführers, die allerdings ausgerechnet in dem Moment einen Knacks erleidet, als ich frage, wie genau denn sein Wasser „Alpquell“ nun schmecke. Schausberger ringt nach Worten und antwortet schließlich: „Ausgewogen.“
Ich versuche, meine Enttäuschung zu verbergen, und frage, ob ich die Quelle sehen dürfe. Schausberger nickt. Auf der kurzen Autofahrt erzählt er mir, dass Rieder’s Quellenbetriebe der größte Produzent in Tirol sind, pro Jahr laufen hier 105 Millionen Flaschen Wasser vom Band. Grundsätzlich gilt: Wer in Tirol Mineralwasser abfüllen und verkaufen will, muss zunächst ein vor Verunreinigungen geschütztes unterirdisches Wasservorkommen erschließen. Erfüllt er alle staatlichen Auflagen, etwa in Sachen Hygiene und Umweltschutz, darf er aus der einen Quelle genau ein Mineralwasser abfüllen – und es sowohl in stillen als auch in sprudelnden Varianten anbieten, wofür er während der Abfüllung Kohlensäure hinzufügt. Ansonsten darf er keine weiteren Inhaltsstoffe zufügen. Möchte er sein Sortiment erweitern und eine zweite Wassermarke anbieten, muss er eine zweite Quelle finden und erschließen.
Schausberger stoppt den Wagen. Wir stehen vor einem kleinen Teich, der sich vor einer Berghöhle erstreckt. Es handelt sich um den Überlauf der Quelle, die sich im Inneren des Gesteins befindet. Als ich mit einem Plastikröhrchen eine Probe quasi direkt aus der Quelle entnehme, runzelt Schausberger kurz die Stirn, lässt mich aber gewähren. Das Wasser schmeckt herrlich, nun ja, frisch und – so bilde ich es mir zumindest ein – im Abgang etwas herb und nach Regen. Auf jeden Fall schmeckt es wirklich anders als jedes andere Wasser, das ich bisher getrunken habe.
2. Lektion
ES IST NICHT DAS WASSER, ES IST DER STEIN.
„Ihre Anfrage ehrt uns natürlich, trotzdem wäre es uns ehrlich gesagt fast lieber, wenn Sie nichts über uns schreiben“, lautet Christine Kirschners Antwort auf meine erste E-Mail. Sie kämen jetzt schon kaum der Nachfrage hinterher. Mit ihrem Mann Thomas Kirschner füllt sie in Obladis, einer kleinen Ortschaft auf fast 1400 Höhenmetern im Westen Tirols, ein Wasser namens „Tiroler Sauerbrunn“ ab, dem nicht nur ein guter Geschmack, sondern auch eine heilsame Wirkung zugeschrieben wird. Schließlich stimmt sie doch einem kurzen Besuch zu.
Als ich am Mittwochnachmittag aus dem Auto steige, führt mich Burgl Kirschner, Christines Schwiegermutter, 81 Jahre alt, gleich zum Besucherbrunnen. „Unser Wasser hilft bei Erkrankungen der Harnwege und bei Magen-Darm- Beschwerden“, erklärt Kirschner. Mit ihrem grünen Fleecepullover und der roten Fleeceweste sieht sie aus wie die moderne Variante einer Almbäuerin. Tatsächlich dürfen die Kirschners ihren „Tiroler Sauerbrunn“ Heilwasser nennen, eine positive Wirkung auf den menschlichen Organismus ist medizinisch nachgewiesen. Für Burgl Kirschner steht sie ohnehin außer Frage. Auf dem Weg zum Brunnen sprudelt sie geradezu vor spektakulären Heilgeschichten. Zum Beispiel von einem Maler, der meint, der „Tiroler Sauerbrunn“ habe ihm das Leben gerettet, weil es nach einer Darmoperation das einzige Wasser gewesen sei, das sein Körper akzeptiert habe. Deutlich karger werden ihre Ausführungen, als ich frage, wie das Wasser schmecke: „Na, wie Tiroler Sauerbrunn eben!“ Ich koste direkt vom Brunnenwasser: Es prickelt auf der Zunge. „Das liegt an unserer natürlichen Kohlensäure“, erklärt Kirschner.
Wie ein Wasser schmeckt, bestimmt also seine Herkunft. Doch wie genau kommen die Aromen aus den Bergen ins Wasser? Das frage ich am nächsten Vormittag Günther Gruber, Geschäftsführer der Privatquelle Gruber. Die Zentrale von Tirols zweitgrößtem Wasserproduzenten liegt nur fünf Autominuten von Rieder’s Quellenbetrieben entfernt. „Bis das Wasser in unsere Quelle gelangt, sickert es mehr als 100 Jahre durch die Gesteinsschichten der Berge und löst dabei Mineralien aus den Steinen – und das wirkt sich natürlich auch auf den Geschmack aus“, erklärt er. Enthält ein Wasser wie der „Tiroler Sauerbrunn“ natürliche Kohlensäure, weist das auf eine frühere Vulkanaktivität in der Gegend hin. In diesem Fall sprudelt aus Quellen im Berginneren noch immer das für Vulkane typische Kohlendioxid, das in Verbindung mit Wasser eben zu Kohlensäure wird. Die Steine der umliegenden Berge der Privatquelle Gruber enthalten wiederum viel Kalzium und Magnesium, das gilt dann auch für Grubers Premiumwasser namens „Montes“. Auf meine Frage, wie genau diese einzigartige Kombination denn nun schmecke, antwortet Gruber: „Neutral.“ Nach ein paar Schlucken aus dem Glas notiere ich die Worte „wirklich ziemlich neutral“ und „Schieferaroma“.
Bis das Wasser in unserer Quelle gelangt, sickert es mehr als 100 Jahre durch die Gesteinsschichten der Berge“ Günter Gruber
Das ideale Trinkwasseraroma: alpiner Quellgeschmack. Doch wo genau findet man dieses in Tirol?
Den Geschmack ihrer Wasser können selbst die Produzenten nicht genau beschreiben. Vielleicht fehlt einfach das richtige Vokabular?
3. Lektion
WASSER BRAUCHT BEGLEITER.
Langsam muss ich der bitteren Wahrheit ins Gesicht sehen: Selbst die Wasserproduzenten können nicht genau beschreiben, wie ihr Wasser schmeckt. Ich rufe Manfred Mödinger an, einen Mineralwasserexperten aus dem deutschen Chiemgau, unweit der österreichischen Grenze, und Mitgründer der Wassersommelier Union, die eine eigene Ausbildung anbietet. Um die Unterscheidung verschiedener Wasser zu erleichtern, hat er eine Art Wörterbuch entwickelt. Den Geschmack von Kalzium beschreibt er zum Beispiel als „trocken“, den von Magnesium als „bitter“, den von mineralarmem Wasser als „metallisch“ und den von basischem Wasser als „seifig“. Richtig in Fahrt kommt Mödinger, als ich ihn frage, welches Wasser denn wozu passe. „Mineralarmes Wasser – etwa aus den Südalpen – eignet sich hervorragend für Tee, weil es wenig Eigengeschmack und wenig Kalkhärte hat“, erklärt er. Zu einem übersäuerten Wein empfiehlt er Wasser mit einem hohem Hydrogencarbonat- Anteil: „Das kann die Säure etwas dämpfen.“ Wie es der Zufall will, steht in meinem Kühlschrank ein erstaunlich saurer Grüner Veltliner, den ich schon weggießen wollte. Nun bekommt er eine zweite Chance in Kombination mit dem „Tiroler Sauerbrunn“, einem Wasser mit viel Hydrogencarbonat. Ich traue meinem Gaumen nicht: In Kombination mit dem Wasser wird aus der sauren Plörre ein ordentlicher Weißwein, dessen Mineralität mich an einen Verdicchio aus der Region Marken in Italien erinnert.
Zwei Fragen schießen mir durch den Kopf: Beeinträchtigt das viele Wasser möglicherweise meine geistige Verfassung? Und: Woher bekomme ich den sizilianischen Brokkoli aus dem Rezept von Tim Raue? Mein italienischer Gemüsehändler erklärt mir, es handle sich um eine violette Variante, die ihre Färbung beim Kochen verliere, und dass ich ihn am besten auf einem Mittwochsmarkt in Palermo bekomme. Zum Glück erlaubt Tim Raue in Notfällen wie diesem auch gewöhnlichen grünen Brokkoli – in meinem Fall immerhin aus Spanien. Wie angegeben, koche ich ihn mit Meersalz, Zucker und einer in Scheiben geschnittenen Knoblauchzehe in 1,5 Liter Wasser der Marke Evian aus den französischen Alpen, lege ihn anschließend – ebenfalls streng nach Rezept – auf Porzellan ab, koche zwei Kellen des Wassers ein, mische es mit Olivenöl und beträufele den Brokkoli damit. Während mein mit Münchner Leitungswasser zubereiteter Kontroll-Brokkoli im Abgang etwas bitter schmeckt, hinterlässt der mit Evian gekochte eine herrliche Süße. Als ich meiner Frau von meinen jüngsten Erkenntnissen berichte, meint sie, dies sei ein guter Zeitpunkt, um einen Schlussstrich unter meine Forschung zu ziehen.
4. Lektion
WASSER HAT TEXTUR.
Aber ganz fertig bin ich noch nicht. In Mehrn, einem kleinen Dorf oberhalb der „Montes“- Quelle, besuche ich Alexander Fong, Geschäftsführer Mehrner Quelle GmbH und Produzent des „Mehrner Heilwassers“ (aktiviert den Stoffwechsel!), der als erster Gastgeber den Geschmack seines eigenen Wassers etwas präziser beschreibt: „Es schmeckt sehr weich, manche Kunden empfinden es sogar als ölig oder milchig“, sagt er. Die weiche Textur hängt damit zusammen, dass das Wasser leicht basisch ist – also einen pHWert von knapp über sieben hat und damit wenig säurebildende Anteile enthält. Das wiederum liegt am Hydrogencarbonat, einem Salz, das aus dem lokalen Gestein ins Wasser gelangt und dort die Säure neutralisiert. Als ich das „Mehrner Heilwasser“ koste, muss ich Fong recht geben. Es erscheint mir nicht nur mineralisch – möglicherweise ein Hinweis auf das enthaltene Magnesium –, sondern es umspült meine Zunge wirklich bemerkenswert weich und erinnert mich spontan an die Konsistenz von lauwarmem Orangensaft. Und ich lerne: Wer ein Wasser wirklich begreifen will, darf sich nicht nur auf die Aromen konzentrieren, sondern muss auch auf die Textur achten.
5. Lektion
WASSER IST, WAS WIR DARAUS MACHEN.
Nach vier Quellenbesuchen, Expertengesprächen und diversen Versuchsanordnungen kann ich Wasser ganz anders schmecken, ganz anders genießen (auch wenn meine Frau manchmal die Augen verdreht, wenn ich mal wieder zu lange auf einem Schluck Mineralwasser herumkaue und herumschmecke). Mein Wasserideal würde ich so beschreiben: Im Mund sollte sich zunächst eine Grundsüße entfalten, ergänzt durch eine angedeutete Säure im Abgang und abgeschlossen mit einem leicht trockenen Gefühl am Gaumen. Im Grunde käme dem also ein Cuvée aus „Montes“ und einem Schuss „Tiroler Sauerbrunn“ am nächsten. Das Ergebnis schmeckt tatsächlich hervorragend. Dazu ein saurer Wein und mein kulinarisches Glück ist perfekt. Fast. Denn an den Geschmack des Rinnsals nach der Wanderung mit den Freunden kommt es nicht heran. Irgendetwas fehlt.
Nach ein paar weiteren Schlucken fällt mir ein, was es sein könnte: das Erlebnis mit den Freunden, die Erlösung nach der langen Durststrecke bergab. Da erinnere ich mich an das Zitat des US-amerikanischen Weinsommeliers Geoff Kruth, der einmal sagte: „Am Ende des Tages verkaufen wir Poesie.“ Und am Ende meiner Forschungsreise glaube ich, das gilt auch für Wasser. Vielen meiner Freunde schmeckt das Mineralwasser am besten, das sie schon in ihrer Kindheit getrunken haben, der süße Geschmack der Erinnerung. Andere kaufen sich gern das Wasser, das sie zum ersten Mal in den Ferien getrunken haben und das ihnen sofort ein Urlaubsgefühl verschafft. Magnesium, Kohlensäure, Kalzium – das alles ist wichtig, keine Frage. Die entscheidende Zutat für ein wirklich perfektes Wasser sind aber die Geschichten, die wir damit verbinden.
Am Ende des Tages verkaufen wir Poesie“ Geoff Kruth