Die Idee: Als einigermaßen fitter Mensch aber ohne großartige Erfahrung im…
Teil 3: Bodenlose Freiheit
Die Idee: Als einigermaßen fitter Mensch aber ohne großartige Erfahrung im Alpinsport begibt sich unser Autor in die Hände von Profis, die ihn auf Unternehmungen mitnehmen, zu denen er allein niemals imstande wäre. Für Teil drei zieht es unserem Autor buchstäblich den Boden unter den Füßen weg.
Das Problem ist nicht der Plan. Er ist knapp, verständlich, nachvollziehbar – kurzum: ein guter Plan. „Auf mein Zeichen rennst du los und hörst nicht auf, bevor ich es dir sage.“ Das Problem ist die Laufstrecke, die Tom für uns ausgesucht hat: eine steile, buckelige Wiese unterhalb des Spieljochs im Rofangebirge. Mario und Tom mahnen zur Eile. Der Nordwind, der über die Kuppe kommt, wird stärker. Wird er zu stark, ist kein Start mehr möglich, er würde uns zu Boden drücken.
Ich sprinte los, nach zwei Metern reißt mich der Schirm zurück. „Weiter, weiter!“, ruft Tom. Ich renne weiter den Abhang hinunter, wir nehmen Geschwindigkeit auf, steuern auf einen kleinen Vorsprung zu. Sollten wir nicht längst in der Luft sein? Plötzlich wird das Gelände steinig, in mir steigt Panik auf. Wenn das so weitergeht, ist es nur eine Frage von Augenblicken, bis ich stolpere. „Nicht stehen bleiben“, brüllt mir Tom zu. Ich zwinge mich zu zwei, drei weiteren Schritten, dann trete ich plötzlich ins Leere.
Ich hätte es auch leichter haben können. Dafür hätten wir nach unserem Espresso auf der Erfurter Hütte nur den offiziellen Startplatz ansteuern müssen, eine weitläufige, sanfte Wiese oberhalb der Bergstation der Rofanseilbahn, die im Winter eine Skipiste ist. „Aber du bist ja sportlich, da können wir auch eine kleine Hike and Fly-Tour wagen“, hatte mir Mario gesagt. Also lassen wir den Startplatz unbeachtet rechts liegen und brechen auf die etwa einstündige Wanderung auf das Spieljoch auf.
Kalkulierte Abstürze
Mario Eder – drahtig, braungebrannt, gutgelaunt – ist ein Urgestein der alpinen Paraglider-Szene. Jahrelang arbeitete er als Testpilot in der Entwicklungsabteilung eines Schirmherstellers, wo sie an immer schnelleren, leichteren, wendigeren Schirmen tüftelten. Abstürze? Sind einkalkuliert. „Deshalb testet man über Wasser und hat ein Rettungsteam mit Boot.“ Der Schirm, mit dem wir heute unterwegs sein werden? „Fliegt sich wie ein Panzer“, antwortet Mario zu meiner Beruhigung. Tom – drahtig, braungebrannt, gutgelaunt, es könnte mit seinem Beruf zusammenhängen – ist an diesem Tag unser zweiter, mein Pilot.
Hike & Fly: Wir starten auf dem Spieljoch.
Mittlerweile haben wir das Spieljoch erreicht. Um uns herum thronen in stiller Pracht die markanten Gipfel der Hochiss, Seekarl- und Rofanspitze. Im Süd-Osten grüßen uns Großvenediger und Großglockner. Bis auf ein paar Dohlen sind wir allein. „Ein gutes Zeichen“, sagt Mario, der die Dohlen ebenfalls bemerkt hat. „Wo die Vögel drehen, ist Aufwind.“
Wir fliegen!
Meine Panik ist sofort wie weggeblasen. Schwerelos segeln wir über die Pfade, über die wir gerade noch mühsam die Rücksäcke nach oben geschleppt haben. Der Wind pfeift, die Beine baumeln, der Blick von oben ist noch toller, als ich es mir ausgemalt hatte. Niemals, denke ich, könnte ich von diesem Gefühl genug bekommen und stoße vor Glück einen lauten Jauchzer aus.
Wie zur Bestätigung stimmt Tom mit ein. Obwohl er schon öfter geflogen ist, als er zählen kann, wirkt er genauso begeistert wie ich. „Des gibt’s doch ned“, ruft er immer wieder.
Atemberaubende Blicke über den Achensee
Wir segeln über die Erfurter Hütte, winken den verbliebenen Gästen zu. Dann liegen die Brandenberger Alpen auch schon hinter uns, vor uns das Karwendel und unter uns: der Achensee. Wohl aus keiner anderen Perspektive ist er so schön wie direkt von oben.
Im 133 Meter tiefen, nördlichen Teil: ultramarinblau, unergründlich, mystisch. Im flacheren Süden, wo man durch das kristallklare Wasser bis auf den Grund sehen kann: weiße Strände, türkisblaues Wasser, karibisches Flair. Er sieht aus, wie etwas, das es in Tirol gar nicht geben dürfte. Langsam verlieren wir an Höhe, die Sonne verschwindet hinter dem Bärenkopf. „Jetzt gibt’s hier leider keine Thermik mehr“, sagt Tom.
In Schrauben drehen wir hinab zum Landeplatz
Nächstes Ziel: der Landeplatz in Maurach
Tom zieht am linken Griff, unser Schirm legt sich prompt in eine steile Kurve. Wie in einer Achterbahn drücken uns die Fliehkräfte in den Gurt, schon nach wenigen Schrauben landen wir auf einer großen Wiese. Einzige Blessuren: zittrige Finger und eine vom vielen Lachen verkrampfte Gesichtsmuskulatur.
Im anschließenden Gespräch mit Mario wird klar: Wie dankbar er ist, dass seine Gäste ihm so dankbar sind – obwohl er ja das tut, was er sowieso liebt. In Tirol, so scheint es, funktioniert die Arbeitsteilung so gut wie nirgends sonst: Experten wie Mario leben ihre Leidenschaft – und lassen Anfänger wie mich daran teilhaben. Ein Setup, bei dem es nur Gewinner gibt.